Der Finger Gottes
Schmidt parkte vor dem Haus, in dem Angela Siebeck wohnte, ihr Fenster war das einzige, hinter dem Licht brannte. Er war etwas verwundert, stieg aus, klingelte, wartete, daß sie sich meldete.
»Ja?« quäkte nach einer Weile Schmidts Stimme aus dem Lautsprecher.
»Brackmann! Was machen Sie bei . . .?«
»Ich drücke.«
Brackmann nahm jeweils zwei Stufen auf einmal. Die Tür zu Angela Siebecks Wohnung war nur angelehnt. Schmidt saß an einem kleinen runden Tisch und notierte etwas auf einem Block. Angelas Gesicht war blaß, ihre Augen gerötet, ihre Bewegungen fahrig. Sie trug einen schwarzen, bis fast zu den Knöcheln reichenden Morgenmantel, hielt eine Zigarette zwischen den schmalen Fingern, rauchte hastig und nervös.
»Was ist passiert?« fragte Brackmann, während er die Tür hinter sich schloß.
Schmidt drehte den Kopf ein wenig und sah Brackmann an. »Frau Siebeck ist überfallen und vergewaltigt worden. Sie kann aber keine genaue Beschreibung des Täters geben, weil alles im Dunkeln passierte, sie sagt nur, er sei relativ jung gewesen, so zwischen achtzehn und zwanzig, einsfünfundsiebzig bis einsachtzig groß und relativ schlank. Er hat auch lauter dummes Zeug gefaselt, wie gut er sie kenne und so weiter. Dann ist er verschwunden, wie er gekommen ist, einfach so. Aber ich hab das Wesentliche schon aufgeschrieben.«
Brackmann trat in die Mitte des Zimmers. »War Dr. Reuter schon hier?« fragte er besorgt. Angela schüttelte den Kopf, ohne Brackmann anzusehen. »Ich meine nur, es wäre sinnvoll, wenn er Sie untersuchen würde und Ihnen vielleicht eine Beruhigungsspritze . . .«
»Ich brauche keine Beruhigungsspritze!« Sie nahm einen Zug an ihrer Zigarette.
»Na ja, er wird im Augenblick wahrscheinlich sowieso nicht erreichbar sein«, meinte Brackmann.
»Wieso?« fragte Schmidt.
»Unwetterwarnung. Deswegen bin ich hier, wir müssen die Leute warnen. Frau Siebeck, ich muß meinen Kollegen jetzt leider mitnehmen. Ich bitte Sie dafür um Verständnis. Wir werden uns weiter um Sie kümmern, sobald die Gefahr vorüber ist.«
Sie nickte teilnahmslos, steckte sich an ihrer fast heruntergebrannten Zigarette gleich eine neue an, starrte aus dem Fenster in die Nacht.
»Sie sollten Ihre Wohnung verlassen und mitkommen. Es gibt sicherere Orte im Moment.«
Sie lachte bitter auf. »Habe ich richtig gehört, sicherere Orte?! Sie sprechen tatsächlich von sichereren Orten?! Bis vor zwei Stunden war ich der festen Meinung, dies hier sei ein sicherer Ort. Gehen Sie, ich habe keine Angst. Wovor sollte ich heute nacht noch Angst haben?«
»Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, aber . . .«
»Sie verschwenden nur Ihre Zeit! Gehen Sie, und lassen Sie mich um Himmels willen allein!«
»Frau Siebeck, es ist wirklich nur gut gemeint. Aber wenn Sie es sich noch anders überlegen möchten . . .«
»Gute Nacht!«
Schmidt und Brackmann gingen. Draußen blieb Schmidt stehen, faßte Brackmann kurz am Arm. »Was glauben Sie – werden wir diesen Drecksack finden? Wir wissen schließlich nicht mehr, als daß es ein junger Mann sein muß.«
»Eben deswegen glaube ich das. Denn ehrlich, Schmidt, wie viele junge Männer so um die Zwanzig, die etwa einsachtzig und schlank sind, kennen Sie in Waldstein? Fünfzig oder höchstens sechzig. Und wenn es eine Weile dauert, wir finden ihn, verlassen Sie sich drauf. Und dann werde ich mir das Bürschchen höchstpersönlich vorknöpfen!«
Am Büro angelangt, sprach Brackmann mit Schmidt den Text durch, wechselte dann in den zweiten Streifenwagenüber. Sie fuhren gleichzeitig in entgegengesetzter Richtung los. Über Lautsprecher informierten sie die Bevölkerung.
»Bürger von Waldstein, eine dringende Durchsage! Das Wetteramt Nürnberg hat für heute nacht eine schwere Unwetterwarnung für Waldstein mit der möglichen Bildung von Windhosen herausgegeben. Bitte verlassen Sie Ihre Wohnungen und suchen Sie einen Kellerraum auf. Sollte das nicht möglich sein, dann bleiben Sie im Erdgeschoß in der Mitte des Raumes oder begeben Sie sich ins Freie und legen Sie sich mit dem Gesicht nach unten in eine Erdkuhle. Öffnen Sie die Fenster. Bitte beachten Sie diese Durchsage. Ich wiederhole . . .«
Doch Waldstein schlief. Viele Bewohner hatten ihre Fenster geschlossen, überließen die Erzeugung kühler Luft Ventilatoren oder, wer es sich leisten konnte, Klimaanlagen.
Aus dem Wetterleuchten entstanden erste, noch feine Blitze. Ein leichter Wind kam auf. In einigen Häusern, aber längst nicht
Weitere Kostenlose Bücher