Der Finger Gottes
stolperte er rückwärts und verlor das Gleichgewicht, wobei ihm die Taschenlampe aus der Hand glitt und auf dem harten Boden zerschellte.
Geistesgegenwärtig nahm Sarah die wach gewordene Josephine bei der Hand und zerrte sie hinter sich her. »Los komm!« rief sie. Sie rannten die Treppe nach oben, Csilla stolperte und fiel auf die Stufen, schrie kurz auf, rappelte sich gleich wieder hoch und lief weiter. Sie rannten an brennenden Kerzen vorbei und an der Mutter des Hauses, die wahrscheinlich wieder einmal mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und schwer atmend mit geschlossenen Augen in einem Sessel saß; der Stock, ohne den sie nicht mehr auskam, stand neben ihr an den Sessel gelehnt. Sie nahmen keine Notiz von der alten Frau, und auch die alte Frau schien sie nicht zu bemerken.
Draußen peitschte ihnen der von Sturmböen getriebene Regen ins Gesicht. Binnen Sekunden waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Die Hunde hatten sich vor dem Unwetter verkrochen und machten keine Anstalten, aus ihrem Versteck hervorzukriechen. Sarah, die Josephine jetzt auf den Arm genommen hatte, und Csilla rannten über den aufgeweichten Rasen hinunter zum Tor. Sarah hangelte sich gekonnt an den Eisenstäben hoch, setzte sich oben hin, während Csilla ihr Josephine reichte, bevor sie beide auf der anderen Seite des Tores nach unten kletterten. Csilla folgte ihr behender, als Sarah es ihr zugetraut hätte.
Sie hörten noch, wie Victor Vandenberg wütend hinter ihnen herschrie, doch sie rannten einfach durch die Mauern aus Windböen, über umgestürzte Bäume, über aus Häusern herausgeschleuderte Möbeln oder über Geschirr hinweg, in die Stadt hinein, die gerade ihre Apokalypse erlebte.
Menschen irrten hilflos, häufig mit nichts als Unterwäsche bekleidet durch die Straßen. Häuser, die in die Luft geflogen waren, eine Stromleitung, die funkensprühend sich wie eine Schlange windend und zischend auf einer Wiese lag. Ein zerschmetterter Konzertflügel lag auf der Straße, daneben eine Waschmaschine. Eine klagende Mutter hielt ihr schreiendes Baby auf dem Arm. Mit verzweifelter Stimme rief sie nach ihrem Mann, blickte dabei auf das Haus, von dem nur noch eine der Innenwände aufrecht dastand. Auf der Straße ein Schild mit der Aufschrift
Tritt ein, bring Glück herein.
Ein anderes Haus schien einfach davongeflogen zu sein.
Mitten im Ort, gleich neben dem Rathaus, blieben sie stehen. »Hier ist das Polizeirevier«, keuchte Sarah, sie stand vornübergebeugt, stützte die Hände auf die Oberschenkel. »Laß uns reingehen, hier sind wir hoffentlich erst mal sicher. Wir können jetzt nur hoffen und beten, daß sie uns nicht verpfeifen.«
Das Büro war leer und finster, lediglich der grelle Schein der Blitze spendete jeweils für Sekundenbruchteile Licht. Sie tasteten sich durch den Raum, suchten einen Platz, wo sie sich hinsetzen konnten. Sarah und Josephine trugen Nachthemden, Csilla einen dünnen Hausanzug. Die Sachen klebten an ihren Körpern, Josephine machte einen verstörten Eindruck. Die Luft war feucht und stickig.
»Besser, wir ziehen unsere nassen Sachen aus und man sieht uns nackt, als daß wir uns jetzt noch den Tod holen«, schlug Sarah vor. Csilla, völlig außer Atem, ließ sich einfachzu Boden fallen und japste nach Luft. Als sie sich erholt hatte, setzte sie sich auf, zog sich aus, nach einer Weile stellte sie sich neben die nackte Josephine, die sich dicht an Sarah schmiegte. Die Frauen und das Mädchen versuchten sich gegenseitig zu wärmen. Es war 1.55 Uhr.
Kapitel 23
Zwei weitere Bewohner des Hauses waren zu Brackmann und Angela Siebeck in den Keller gestoßen. Der eine war ein Ägypter, der im Supermarkt arbeitete, ein stiller, freundlicher Mann, der einen langen weißen Umhang und ein buntes Käppi trug, zwischen seinen braunen Fingern hielt er eine Gebetskette und murmelte für die anderen Unverständliches.
Der andere, ein älterer weißhaariger Mann, der kaum einmal ein Wort sprach und in völliger Isolation lebte, seit er vor ein paar Jahren nach Waldstein gekommen war, hatte sich einen Stuhl mitgebracht und setzte sich in eine Ecke, so weit weg von den anderen wie möglich, das Gesicht zu Boden geneigt, die Hände gefaltet.
»Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte Brackmann mit gedämpfter Stimme, an Angela gewandt.
»Fragen Sie.«
»Ich weiß, die Frage mag zu einem sehr unpassenden Zeitpunkt kommen, aber wie es aussieht, wird dieser Sturm nicht ohne Folgen bleiben. Wir werden nachher vermutlich eine
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