Der Finger Gottes
zerstörten Haus.
Brackmann und Angela Siebeck sahen ihm wortlos nach, dann setzten sie ihren Weg schweigend fort. Ein paar Bewohner hatten die Scheinwerfer ihrer Autos angeschaltet, um wenigstens ein bißchen Licht zu haben. Und immer wieder hallten markerschütternde Schreie durch die Nacht. »Sehen Sie sich das an, fast ganz Waldstein liegt in Schutt und Asche, nur mein Büro steht noch! Von mir aus hätte dieses verdammte Ding als erstes wegfliegen können«, sagte Brackmann sarkastisch. Er öffnete die Tür, leuchtete mit der Taschenlampe hinein, zuckte erschrocken zurück. Zwei Frauen und ein Mädchen standen nackt und dicht aneinandergedrängt an der Wand, die Blicke ängstlich und schamvoll zur Tür gerichtet.
»Wer sind Sie? Und was tun Sie hier?«
»Sarah Vandenberg«, sagte eine der Frauen zögernd, »und das sind meine Schwägerin Csilla und meine Tochter Josephine. Könnten Sie bitte . . .«
Brackmann richtete den Strahl der Lampe in die entgegengesetzte Ecke des Raumes. »Was tun Sie hier, noch dazuohne Kleider? Hat Ihnen der Tornado etwa auch das Haus weggerissen?«
»Nein, nein, das ist es nicht. Wir sind hier, weil wir Ihre Hilfe brauchen. Aber ich bitte Sie inständig, keiner Menschenseele etwas davon zu sagen, daß wir . . . hier bei Ihnen sind. Bitte!«
»Woher wollen Sie wissen, daß Sie mir vertrauen können?«
»Wir wissen es nicht, wir hoffen es nur. Bitte! Sie werden uns doch nicht verraten, oder?«
»Nein, Sie brauchen keine Angst zu haben, Sie sind fürs erste sicher hier.« Und an Angela gewandt: »Frau Siebeck, ich schätze, es ist besser, wenn Sie sich um die Damen kümmern. Ich werde von hinten ein paar Decken holen, die sie sich umlegen können. Kochen Sie bitte Kaffee, Sie finden ihn unten in dem kleinen Schrank, dort müßten auch ein paar Kerzen liegen. Probieren Sie aber erst, ob der Gaskocher funktioniert. Ich werde mich jetzt erst mal im Ort umsehen. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, aber sollten Schmidt oder Richter auftauchen, dann richten Sie ihnen das bitte aus.« Er wollte schon gehen, als er sich noch einmal umdrehte und zu den Frauen sagte: »Ach ja, ich denke, es wäre besser, wenn Richter oder Schmidt oder wer immer hier auftaucht, Sie nicht zu Gesicht bekommt. Warten Sie hinten im Zellentrakt, bis ich wiederkomme. Dann sehen wir weiter.«
Er verließ sein Büro. Während er über den nassen Asphalt lief, dachte er an den alten Willy, den Säufer, der jetzt auch ein Prophet war. Er kam am Haus von Bürgermeister Phillips vorbei, das dem ersten Augenschein nach keine gravierenden Schäden aufwies.
Er überquerte die Straße, glaubte einen Fuß auszumachen, der unter einem Stapel Holz hervorschaute. Er leuchtete genauer hin, es war tatsächlich ein Fuß. Er versuchte, die darüberliegenden Trümmerteile auf die Seite zu heben,aber er hätte Hilfe gebraucht, allein konnte er es unmöglich schaffen. Er schrie in den Sturm hinein, seine Stimme verhallte ungehört. Wer immer in diesem Haus gelebt hatte und jetzt unter diesen Trümmern lag, es gab keine Hoffnung.
Wie viele wohl tot sind? fragte er sich, während er sich von dem Haus entfernte. Zehn, zwanzig, hundert oder mehr?
Ein junges Ehepaar stand im Regen, jeder ein Kind auf dem Arm, den Blick auf ihr ehemaliges Haus gerichtet, die Tränen vom Regen fortgeschwemmt. Brackmann sah sie nur kurz an, ging an ihnen vorbei; sie hatten Glück gehabt. Ein anderes Haus, ein Kartenhaus, dessen Wände auf dem Boden lagen, während ein Großteil des Inventars nahezu unberührt geblieben war. Und immer wieder dieser Gasgeruch! Solange es regnete, war nichts zu befürchten, doch wenn der Regen aufhörte, wenn jemand eine Zigarette anzündete . . . Viele, vielleicht sogar die meisten Haushalte in Waldstein kochten mit Gas.
Reuters Praxis. Hier war das Dach beschädigt und die Fensterscheiben zerbrochen. Er wollte schon die Treppe hochlaufen, als Reuter wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Die Haare und die Kleidung klebten an seinem Körper, die Tasche mit seinen Instrumenten und ein paar Medikamenten hielt er fest umklammert. Sein Blick war wirr, als er sagte: »Hier ist die Hölle gewesen. Weiß Gott, Brackmann, ich schwöre Ihnen, heute ist die Hölle mit all ihren Heerscharen durch Waldstein gezogen. Was sonst als die Hölle sollte das gewesen sein? Ich habe nie für möglich gehalten, daß es so etwas wirklich gibt. Irgendwo anders, vielleicht, aber hier? Haben Sie schon mal so viel Leid und Elend auf einem
Weitere Kostenlose Bücher