Der Finger Gottes
Haufen gesehen? Ich jedenfalls nicht. Berger und seine Frau sind tot, die kleine Anna Purucker, Anton Müller und noch einige andere. Und das dürfte erst die Spitze des Eisbergs sein. Und es gibt so verdammt viele,die schwerverletzt sind und dringend ins Krankenhaus müßten. Wenn nur diese verfluchten Telefone funktionieren würden!«
»Sagen Sie mir, wo und wie ich helfen kann und ich tu’s.«
»Rufen Sie über Funk Verstärkung.«
»Unsere Funkanlage reicht gerade noch aus, daß wir mit unseren Streifenwagen kommunizieren können. Wir haben auch nur die Telefone. Was kann ich sonst tun?«
»Mein Gott, gehen Sie die Straße entlang, Sie werden schon über die Leute stolpern! Verdammt noch mal, ich kann Ihnen auch nichts sagen«, sagte Reuter unwirsch. »Ich muß meine Tasche wieder auffüllen. Ich habe aber bei weitem nicht genügend Schmerzmittel und Verbandsmaterial. Wir können nur hoffen, daß bald Hilfe kommt. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muß weiter.« Er stieg die Treppe hinauf, auf der obersten Stufe drehte er sich noch einmal um. »Sollten Sie allzu müde werden, ich habe da ein paar Pillen . . .«
»Danke, Doktor, im Augenblick geht’s noch.«
Auch das Haus der Schneiders hatte der Tornado gefressen. Das für den Abend geplante gemeinsame Essen war damit abgesagt. Die Wände waren, wie bei den meisten betroffenen Häusern, einfach umgekippt, vom Zaun, dem Schneider erst am vergangenen Wochenende so liebevoll angestrichen hatte, standen nur noch vereinzelte Latten, der kleine Garten war verwüstet. Es wäre ein Wunder gewesen, hätte er in diesem Trümmerhaufen Überlebende gefunden. Und in dieser Nacht glaubte Brackmann nicht an Wunder. Er versuchte es trotzdem, stieg über Holz und anderes Gerümpel, unter seinen Füßen knirschte es metallen.
Die erste, die er sah, war Frau Schneider. Sie lag auf dem Rücken in ihrem Bett, die Augen geschlossen, der Regen ließ ihr fahles Gesicht glänzen. Sie atmete nicht mehr. Brackmann fühlte ihren Puls – lebloses, nasses, kaltesFleisch. Ihr Mann lag neben dem Bett auf dem aufgeweichten Boden, das Gesicht voller Glassplitter, die sich tief in die Haut gebohrt hatten, zwei Holzlatten wie ein Kreuz über dem Oberkörper. Seine Augen waren einen Spalt geöffnet, er röchelte. Brackmann beugte sich zu ihm hinunter. Ihm war, als lächelte Schneider ihn an, sobald er ihn erkannte.
»Hallo, Herr Kommissar.« Schneider hustete, hob kurz den Kopf, ließ ihn wieder zurückfallen, »Sie kommen spät. Was ist passiert?« Er sprach so leise, daß Brackmann ihn kaum verstand.
»Ein Tornado.«
Schneider nahm Brackmanns Hand und drückte sie, als wollte er sie nie mehr loslassen. »Ellie schläft noch, nicht wahr?«
Brackmann nickte. »Ja, sie schläft.«
»Gut, dann lassen wir sie schlafen. Ich bin auch müde, ich denke, ich sollte auch besser schlafen. Wissen Sie, wovor ich Angst habe?«
Brackmann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich wüßte auch nicht, wovor Sie Angst zu haben bräuchten.«
»Sie haben ja keine Ahnung«, stöhnte Schneider mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. »Ich habe trotzdem Angst. Ich habe Angst, Ellie nicht wiederzusehen. Aber ich will sie doch wiedersehen.«
»Keine Sorge, Herr Schneider, Sie werden sie wiedersehen.«
»Wenn nur jemand diese Nadeln aus meiner Lunge nehmen könnte! Ich spüre auch meine Beine nicht mehr. Und diese merkwürdigen Stimmen. Hören Sie es auch? Hören Sie diese wunderbaren Stimmen? Tut mir leid, aber ich fürchte, das mit dem Essen heute abend wird nichts.«
Der Druck von Schneiders Hand ließ plötzlich nach. Die Pupillen brachen, die Atmung setzte aus. Brackmann fühlte den Puls, Schneider war tot. Er leuchtete ihn noch einmalkurz an, danach seine Frau. Er erhob sich, drehte sich um und ging. Stemmte sich gegen den kalten Wind. Es tat ihm leid um die Schneiders, aber er wußte, daß es besser war, daß sie beide tot waren, für einen allein wäre das Leben kein Leben mehr gewesen.
Soweit er erkennen konnte, war bei den Oberts und den Merkels alles heil geblieben, zumindest konnte er keine gravierenden Schäden ausmachen. Aber wo einst hübsche, liebevoll angelegte Gärten waren, wo Rosensträucher ihren betörenden Duft verströmten und schneeweiße Zäune auf etliche hundert Meter hinweg die Straße säumten, war alles zerstört, vom Sturm entwurzelt, vom Regen fortgespült.
Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, bekleidet mit nichts als einem auf der Haut
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