Der Finger Gottes
mitgekommenen Soldaten an: »Ich bin Polizeiobermeister Brackmann. Ich würde gerne mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Mein Gott, was ist denn hier passiert?!« sagte der junge Mann, fügte aber gleich hinzu: »Ich werde Sie natürlich sofort zu unserem Leutnant bringen.« Brackmann folgte dem hochgewachsenen, höchstens zwanzig Jahre alten Burschen. Er salutierte vor einem hageren mittelgroßen Mann mit kleinen stechenden Augen in einem undurchdringlichen kantigen Gesicht. »Leutnant Bürger, Herr Brackmann von der Polizei möchte Sie sprechen!« Der junge Soldat stand für einen Moment stramm, machte dann kehrt.
»Haben Sie schon einen Überblick über das Ausmaß derKatastrophe?« fragte der Leutnant mit harter, schnarrender Stimme, offensichtlich gewohnt, Befehle zu erteilen, und gewohnt, daß diese widerspruchslos hingenommen wurden. Er musterte Brackmann kühl und abschätzend, einen lausigen Polizisten in einem noch lausigeren Nest, das seinem kalten Blick nach zu urteilen wahrscheinlich nichts anderes als dieses Unglück verdient hatte.
»Nein, Leutnant, um einen Überblick zu erhalten, müßte wenigstens die Elektrizität wieder funktionieren. Alles, was wir haben, sind Taschenlampen und Kerzen. Im Augenblick sind wir einzig und allein auf Vermutungen angewiesen. Ich gehe davon aus, daß einige Gasleitungen defekt sind und man sich darum kümmert. Und wie es aussieht, hat es zahlreiche Tote gegeben. Ich schlage daher vor, die Stadt systematisch nach Schwerverletzten abzusuchen.«
»Danke, daß Sie für mich denken wollen, aber das habe ich bereits veranlaßt. Wir haben drei Sanitätshubschrauber dabei sowie einige Sanitäter und Ärzte. Ein paar meiner Männer werden sich zunächst um das Gas und die Wiederinbetriebnahme der Stromversorgung kümmern. Wenn es weiter nichts gibt . . .« Den Leutnant scherte die Situation einen Dreck, weder der Schlamm noch die Sturzfluten vom Himmel, die Zerstörung, das Leid der Menschen. Brackmann ließ ihn einfach stehen.
Um 3.25 Uhr kehrte Brackmann in sein Büro zurück. Der Wind hatte abgeflaut, es regnete nur noch leicht.
Sie saßen auf einer Pritsche in einer der hinteren Zellen, Angela Siebeck, die zwei Vandenberg-Frauen und das Mädchen. Sonst war niemand im Büro. Auch Angela hatte sich eine Decke umgelegt. Er ging zu ihnen und sagte: »Es tut mir leid, aber bevor ich mich Ihnen widmen kann, muß ich mich einen Moment ausruhen. Es sei denn, es gibt Probleme, die sofort gelöst werden müssen.«
»Nein, keine Probleme. Und es ist auch niemand in der Zwischenzeit hiergewesen«, sagte Angela. Brackmann begab sich wieder nach vorn, ließ sich auf den Stuhl fallen. Die Müdigkeit, der mangelnde Schlaf der vergangenen Tage machten sich bemerkbar. Seine zerschundenen Arme und Beine schmerzten, vor allem der rechte Fuß, in den sich der Nagel gebohrt hatte, ab und zu tanzten Funken vor seinen Augen. Angela Siebeck kam von den Zellen nach vorn, setzte sich auf die Schreibtischkante. Sie hielt eine Kerze in der Hand, das Licht ließ ihr Gesicht unnatürlich bleich erscheinen, sie hatte tiefe Ringe unter den Augen.
»Wie sieht es aus?« fragte sie mit gesenktem Blick. Brackmann hatte die Augen geschlossen und die Beine auf den Schreibtisch gelegt.
»Tod, Verwüstung, Elend«, murmelte er. »Wenn Sie die Leute sehen könnten! Sie kennen doch bestimmt die Schneiders, das ältere Ehepaar? Beide tot.« Er erzählte von dem kleinen Mädchen mit der Puppe. »Und dazu dieser Regen! Ich glaube, es gibt keinen, der sich nicht seit Wochen oder Monaten Regen gewünscht hat – aber so?! Was ist bloß heute nacht mit Waldstein passiert? Zum Glück sind die Soldaten gekommen. Sie werden hoffentlich die Stromversorgung bald wieder instand setzen können. Wollen Sie noch was wissen?« Er öffnete die Augen, sah Angela an, sie schüttelte den Kopf.
Er fragte: »Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?«
»Wieso?« fragte Angela Siebeck.
»Kam mir nur so in den Sinn, war ’ne blöde Frage von mir. Vergessen Sie’s einfach. Mein Gott, bin ich müde. Ich könnte jetzt einen Kaffee gebrauchen. Ist noch eine Tasse da für mich?«
»Natürlich«, sagte Angela, holte die Kanne und einen Becher, schenkte ihm ein, stellte die Tasse auf den Tisch. »Was soll mit den Frauen geschehen?«
»Keine Ahnung, ich habe noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken! Sie sollen in der Zelle bleiben, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen habe. Ich muß mich nur ein paar Minuten
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