Der Finger Gottes
klebenden Nachthemd, saß auf der Kante des Bürgersteigs, die nackten Füße von reißendem Wasser umspült, eine Puppe fest an die Brust gedrückt.
»Na, Kleine, wo sind denn deine Eltern?« fragte er, ging in die Hocke, streichelte über das lange braune Haar des Mädchens.
Sie reagierte nicht auf die Frage, der Blick aus ihren großen, dunklen Augen ging durch die dünnen, gläsernen Fäden des Regens ins Nichts. Brackmann drehte sich zu dem Haus um, in dem sie gewohnt hatte. Er stand auf, stolperte über Bretter und Trümmer, fiel hin, schrie auf, als ein Nagel durch die dicke Sohle seines rechten Schuhs drang und Holzsplitter sich in seine Hände bohrten; er hangelte sich weiter, bekam wieder festen Boden unter den Füßen, ließ den Strahl seiner Taschenlampe in die alptraumhafte Schwärze eindringen, verharrte, horchte in die Dunkelheit hinein, glaubte auf einmal, Stimmen zu hören, schwach nur, aber je weiter er sich durch den Schutt wühlte, desto klarer wurden sie. Er räumte alles, was ihn behinderte, zur Seite, Nägel, Holz-, Glas- und Metallsplitter rissen die Haut an seinen Händen und Armen,selbst an seinen Beinen auf. Er betete, fluchte, hoffte, alles auf einmal, war der Verzweiflung nahe, denn was er vorhatte, war eigentlich unmöglich, aber warum nicht einmal das Unmögliche schaffen?
Sie lagen beide auf dem Boden, eine junge Frau und ihr Mann. Die Frau hatte die Augen halb geschlossen, ihr Atem ging flach und schnell, sie wimmerte. Auch der Mann atmete noch, doch sein langsamer Puls setzte immer wieder aus. Brackmann kümmerte sich zuerst um die Frau, trug sie nach draußen, wo er sie neben ihre Tochter auf den Bürgersteig legte. Der Mann war viel schwerer, und Brackmann wußte nicht, ob er innere Verletzungen oder Brüche hatte, aber es gab keine andere Möglichkeit, er packte ihn sich über die Schulter, schleppte ihn ins Freie, legte auch ihn auf den Bürgersteig. Das Mädchen drehte sich zu seinen Eltern, sah sie an, streichelte erst der Mutter, dann dem Vater übers Gesicht, begann ein Schlaflied zu singen.
Brackmann rannte über die Straße zu den Merkels, weil sie die einzigen ihm bekannten Leute waren, die über eine Amateurfunkanlage verfügten.
Merkel stand vor dem Haus, Hilflosigkeit im Blick. Brackmann sah es, aber in seinem Innern verarbeitete er diese Hilflosigkeit nicht. »Merkel, mein Gott, Sie schickt der Himmel!«
»Sind Sie da wirklich sicher?« Merkel deutete bitter lachend um sich. »Von was für einem verfluchten Himmel sprechen Sie eigentlich?«
»Sie haben doch eine Funkanlage?! Oder haben Sie gar ein Handy? Hören Sie zu, wir müssen dringend Hilfe holen. Es gibt so viele Schwerverletzte, daß Dr. Reuter sie unmöglich alle allein versorgen kann. Ich weiß nicht, inwieweit schon anderweitig Hilfe angefordert worden ist, aber besser einmal zuviel als einmal zuwenig.«
Merkel machte ein gleichgültiges, apathisches Gesicht, zuckte nur mit den Schultern. Brackmann packte ihn mit beiden Händen, schüttelte ihn durch und schrie ihn an: »Hören Sie zu, Merkel, hier geht es nicht nur um Sie, hier geht es um den ganzen Ort! Um Menschenleben! Machen Sie, daß Sie an die Funkanlage kommen und holen Sie Hilfe, und zwar schnell!«
Merkel sah Brackmann aus großen Augen an, dann drehte er sich um und ging ins Haus, das nicht einmal eine Schramme abbekommen hatte. Frau Merkel saß in einem Sessel und schlief. Eine Kerze flackerte.
»Meine Frau schläft. Sie hatte vorhin einen Asthmaanfall, ich mußte ihr Valium geben«, sagte Merkel; Brackmann hörte ihm nicht zu. »Mein Handy ist übrigens in Hof, in meinem Büro.« Brackmann folgte ihm in einen Raum, der vollgestopft war mit technischem Gerät, vom Computer bis zur Funkanlage. Merkel zog sich einen Stuhl heran, setzte die Kopfhörer auf, drückte ein paar Schalter.
»Um diese Zeit ist es aber nicht ganz einfach, durchzukommen.« Er dreht an einigen Knöpfen, arbeitete sich durch die Frequenzen, bis er glaubte, eine Verbindung zu haben. Fehlanzeige. Es dauerte etwa fünf Minuten, bis Merkel durchkam. Ein kurzes Gespräch, dann drehte er sich um, sein Gesicht so ausdruckslos wie zuvor.
»Das war Nürnberg, die Polizeistation. Sie sind bereits informiert worden, ebenso die Krankenhäuser in Hof und Münchberg sowie einige Hilfsdienste. Es sind Hubschrauber der Bundeswehr mit Ärzten, Decken und Medikamenten unterwegs.«
»Okay und danke. Ich muß wieder los. Jede gesunde Hand wird gebraucht.« Brackmann drehte sich um und
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