Der Finger Gottes
lief los, als die Stimme Merkels ihn zurückhielt.
»Warten Sie, ich komme mit. Was soll ich hier? Meine Frau schläft, und Andy . . .«
»Bitte?«
»Ach, nichts weiter, es ist alles in Ordnung.«
»Wir werden als erstes schnell bei Ihren Nachbarn, den Oberts, vorbeischauen.«
»Wenn’s unbedingt sein muß.«
Wie bei den Merkels war auch bei den Oberts Kerzenschein. Ernst, der älteste Sohn, kam, mit einer nur noch schwach brennenden Taschenlampe in der Hand, von einer Inspektionsrunde hinter dem Haus hervor, den unbeholfen hintendreintapsenden Jonathan im Schlepptau, als Brackmann vorsichtig an die schief in den Angeln hängende Tür klopfte. Merkel blieb an der Straße stehen, die Hände in den Hosentaschen vergraben.
»Seid ihr alle okay?«
Ernst nickte. »Uns geht’s gut. Und das Haus, na ja, das Dach und ein paar Fenster sind hin, und das Gartenhaus«, er zuckte mit den Schultern, »weiß der Geier, wo das hingeflogen ist. Und vom Garten ist auch nicht mehr viel übrig. Und wie sieht es im Ort aus?«
»Deswegen bin ich hier. Wir brauchen jeden Mann und jede helfende Hand. Es gibt sehr viele Schwerverletzte. Wir müssen versuchen, wenigstens ein paar von ihnen zu retten. Wir könnten auch eure Hilfe brauchen.«
»Sicher. Mein Vater und Andy sind im Haus. Kommen Sie mit.«
Frau Obert und Caroline standen mit versteinerten Mienen in der Küche, während Obert und Andy durchnäßt die Treppe herunterkamen.
»Hallo«, murmelte Obert.
»Hallo. Ich habe eben schon mit Ernst gesprochen. Wir brauchen jetzt jeden gesunden Mann. Es gibt eine Menge zu tun, wie Sie sich denken können. Aber wir sollten uns nicht zu lange mit Reden aufhalten. Es sei denn, es gibt bei Ihnen im Augenblick irgendwelche Personenschäden.«
Obert schüttelte den Kopf, kam auf Brackmann zu und wollte wissen: »Wo sollen wir anfangen?«
»Gehen Sie auf die Straße; Sie werden es schon sehen und wahrscheinlich auch hören.« Dann wandte Brackmann sich an die beiden Frauen: »Und Sie bitte ich, sich in der Zwischenzeit um zwei Verletzte zu kümmern. Sie liegen auf dem Bürgersteig. Ich denke, das Mädchen, das neben ihnen sitzt, ist ihre Tochter. Ich kenne sie zwar vom Sehen, weiß aber nicht ihre Namen, doch es sind Nachbarn von Ihnen.«
»Bringen Sie sie herein. Ich werde sehen, was ich für sie tun kann«, sagte Frau Obert.
Brackmann und die Männer eilten auf die andere Straßenseite, trugen die Verletzten ins Haus.
»Das sind ja die Grönerts! Sie haben doch noch ein Baby!« rief Frau Obert aus.
Brackmann überlegte nicht lange, machte wortlos kehrt und rannte hinüber, um nach dem Baby zu suchen. Andy und Obert folgten ihm, während Merkel zusammen mit Ernst in die Dunkelheit eintauchte.
Andy hörte es als erster, trotz des heulenden Sturms. Es lag auf der anderen, der Straße abgewandten Seite des Hauses auf dem Rasen – und es schrie. Es schrie vor Müdigkeit und Hunger, es schrie, weil der Regen in einem fort auf seinen kleinen Körper prasselte, es schrie, weil es keine andere Möglichkeit hatte, seinen Unmut kundzutun, es schrie, weil im Moment für dieses kleine Bündel Mensch alles zum Schreien war. Andy hob es vom aufgeweichten Rasen hoch, ging, das Baby im Arm, zurück zum Haus, Obert und Brackmann hinterher. »Ich hab das Baby, ich hab’s! Es lebt!«
»Der Tornado muß es herausgeschleudert haben«, sagte Brackmann und strich sich übers stoppelige Kinn, »wahrscheinlich hat es da schon geregnet, und der Boden war weich, und . . . Ach was, egal, Hauptsache, es lebt. Hoffentlich überleben es auch seine Eltern. Kommen Sie, HerrObert, sehen wir nach, ob wir noch woanders helfen können. Andy, ich schlage vor, du bleibst bei den Frauen und hilfst ihnen.« Andy nickte.
Eine der längsten und schwärzesten Nächte in der Geschichte von Waldstein war noch nicht zu Ende.
Kapitel 24
Um 3.10 Uhr kamen sie, flogen mit dem Wind, der den Schall auf Waldstein zutrieb. Die Helikopter verhießen Hoffnung, Hilfe, Rettung. Das grelle Licht der Suchscheinwerfer machte die Nacht zum Tag, ein Hoffnungsstrahl, der größer wurde mit jedem Meter, den sie näher kamen. Die Scheinwerfer kreisten, um Stellen auszumachen, wo die Hubschrauber gefahrlos landen konnten. Ein paar Menschen liefen aufgeregt winkend über den Marktplatz auf die Hubschrauber zu. Die allmählich zum Stillstand kommenden Rotorblätter peitschten den entgegenkommenden Regenfontänen ins Gesicht.
Brackmann war einer der ersten am Landungsort, er hielt einen der
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