Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
lassen.
Revolution ohne Osama
Eine Kraft allerdings bleibt den Protesten in Arabiens Straßen fern: der Fundamentalismus. Die Religion wurde aus dem politischen Leben verbannt. Wo ist er denn hin, der Erzfeind, der – wie Bush und Blair verkündeten – die westliche Unterstützung der Diktatoren nötig machte, weil er sonst die einzelnen Länder destabilisieren würde? Statt der Fundamentalisten stehen in den arabischen Städten junge Leute in Jeans und Turnschuhen auf der Straße, sozialisiert in Facebook, Myspace, YouTube und Twitter, die lieber zum Handy greifen als zum Säbel.
Etwa 60 Prozent der Bevölkerung in Nordafrika sind unter dreißig. Der größte Teil dieser Menschen ist arbeitslos. Kein Wunder also, dass es die jungen Leute sind, die diese Revolution vorantreiben, vor allem wenn man bedenkt, was eine Studie der Forschungsorganisation Population Action International ergeben hat: 80 Prozent der militärischen Konflikte, die weltweit zwischen 1970 und 2000 ausbrachen, wurden von Staaten geführt, in denen 60 Prozent der Menschen unter dreißig waren.
Die Aufstände in Tunesien und Ägypten – und im Rest des Vorderen Orients – sind Teil einer modernen Revolution, die nicht von einigen wenigen religiösen und politischen Eiferern ausgerufen wurde. Hier geht es um Menschen, die Arbeit wollen, eine anständige Unterkunft, eine Zukunft. Bislang ist in diesen Ländern nichts dergleichen geschehen, daher ist nicht sicher, wohin die Bewegung führen wird. In Kairo hat die Revolte Tabula rasa gemacht wie in Paris 1789. Nun blicken die Aufständischen in eine ungewisse Zukunft, für die sie keinen Kompass in der Hand halten.
Wir hingegen sollten uns in der Zwischenzeit mit einer anderen Lüge auseinandersetzen, die unsere Regierenden uns aufgetischt haben: der von den angeblichen »Feinden des Westens«. Allmählich kommen wir dahinter, dass unsere wahren Feinde nicht die islamistischen Fundamentalisten des getöteten Osama bin Laden sind, sondern Diktaturen und Oligarchien, die der Westen seit Jahrzehnten unterstützt. Dies kam nicht nur für die politische Klasse in unseren Ländern unerwartet, sondern auch für die Analysten in Think Tanks und Geheimdiensten. Plötzlich bricht das geopolitische Schema zusammen, das auf der Polarität zwischen »uns« und »ihnen« beruhte. Damit ist der »Clash of Civilisations«, um den es jahrelang ging, das ganze Gerede von »Globalisierungsgewinnern und -verlierern«, Schnee von gestern.
Der Kampf der jungen Araber gegen ihre Diktatoren ist derselbe wie der, den wir gegen die Oligarchien in unseren Ländern zu führen haben. Und der Flächenbrand ist noch lange nicht zum Stillstand gekommen. Denn die Revolte der Empörung in Europa ist bislang ebenfalls ohne Beispiel. Auch nördlich des Mittelmeers müssen wir ohne Kompass segeln.
Der Ursprung beider Revolten, der im Norden und der im Süden, liegt in der Französischen Revolution von 1789, die ja nicht nur das Gesicht Europas veränderte, sondern auch die arabische Welt betraf. Als die arabischen Intellektuellen gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre eigene Fassung der Modernität suchten, richteten sie ihren Blick nicht auf die englischen Midlands, wo die industrielle Revolution gerade ihren Anfang nahm, sondern nach Paris, wo sich das Volk auf der Place de la Bastille versammelte und »Liberté, égalité, fraternité« rief. In anderen Worten: Das Volk hat ein Recht darauf, gut regiert zu werden. Es muss nicht auf die Gnade Gottes warten.
Im Lauf von Napoleons Ägyptenfeldzug brachten seine Soldaten auch die Ideen der Revolution nach Nordafrika. Die Araber verglichen die Renaissance Europas mit der Dekadenz des Osmanischen Reiches, das damals als »der kranke Mann am Bosporus« bezeichnet wurde. Und ihnen wurde klar, dass auch ihre Regierungsform einer Rundumerneuerung bedurfte. Und so entstand »Al Nahda«, was wörtlich »Aufstehen« heißt. Diese Bewegung versuchte, den Islam mit den europäischen Ideen der Moderne zu verbinden.
Die Nahda-Bewegung markiert den Anfang der Modernisierung der arabischen Welt, ein Prozess, der uns direkt zu den Aufständen von 2011 führte. Heute aber nimmt die Revolution quasi den umgekehrten Weg. Der Funke der demokratischen Erneuerung breitet sich von Nordafrika und dem Vorderen Orient nach Europa aus.
Doch warum ist mittlerweile so viel Zeit vergangen? Der Grund dafür ist im europäischen Kolonialismus zu suchen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts richteten die Länder des
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