Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
überdacht werden: An die Stelle der bisher praktizierten Steigerung des Wirtschaftswachstums um jeden Preis zum Zwecke der Ausbeutung muss ein Evolutionsprozess treten, der auf den Prinzipien von Menschlichkeit, sozialem Wohlstand, Nachhaltigkeit und gerechter Verteilung der Ressourcen beruht. Doch wir müssen der Stimme des Volkes Gehör verleihen, wenn wir dieses grundsätzliche Ziel erreichen wollen. Dies machen folgende Beispiele aus der jüngeren Geschichte deutlich.
Island – ein Glücksfall ohne den Euro
Im späten Frühjahr 2011 deckt sich auch Island wieder auf den internationalen Kapitalmärkten ein: Es bekommt das hübsche Sümmchen von einer Milliarde Dollar zu einem Zinssatz von nur etwa 3 Prozent. Drei Jahre zuvor dagegen hatte das Land für Aufsehen gesorgt, als es entgegen der Empfehlung des Währungsfonds den Weg in den Bankrott wählte. Dass Island die Restrukturierung seiner Schulden (die tausendmal höher waren als sein Bruttoinlandsprodukt) gelang, ist auf eine simple Einsicht zurückzuführen: In Island hatte man begriffen, dass es wenig Sinn hätte, die Kredite weiter bedienen zu wollen. Die Regierung weigerte sich, der Bevölkerung unerträgliche Opfer abzuverlangen. Damals mangelte es nicht an Kritik und Drohungen von Seiten der internationalen Gemeinschaft. Gordon Brown setzte Island gar auf die Liste der »Schurkenstaaten«, um das Kapital der zwei isländischen Banken einfrieren zu können, die in Großbritannien tätig waren.
Als die Bevölkerung schließlich die männerlastige Regierung aus den Jahren der Verschwendung abwählte und die Zügel des Landes in weibliche Hände legte, hieß es allenthalben, die Isländer seien nun dazu verdammt, sich jahrzehntelang nur von Fisch und Butter zu ernähren. Weit gefehlt.
Gerade die einzelnen Etappen der Islandkrise sind für uns höchst lehrreich. Auch die Isländer wollten bei der Lösung der Krise mitreden. Der Beschluss, die wichtigsten Entscheidungen vom Volk treffen zu lassen, sorgte dafür, dass die Krise erfolgreich bewältigt wurde.
Im September 2008 wird die die bedeutendste isländische Bank namens Glitnir verstaatlicht. Unmittelbar darauf bricht die Währung zusammen, die isländische Börse schließt ihre Pforten. Jetzt ist es offiziell: Das Land ist bankrott. Im Januar 2009 führen die Bürgerproteste vor dem Parlament zum Rücktritt von Premierminister Geir Haarde und seiner aus sozialdemokratischer Allianz (Samfylkingin) und Unabhängigkeitspartei zusammengesetzten Regierung. Vorgezogene Wahlen finden statt, doch die wirtschaftliche Lage bleibt prekär. Das Parlament präsentiert einen Gesetzesvorschlag, der die Rückzahlung der Schulden an Großbritannien und Holland vorsieht. Beide Nationen haben nämlich das Kapital zweier isländischer Banken in ihren Ländern sozusagen »konfisziert«. Die Rückzahlung von knapp 4 Milliarden Euro mit einem monatlichen Zinssatz von 5,5 Prozent hätte für fünfzehn Jahre jede einzelne isländische Familie belastet. Die Bevölkerung fordert eine Volksabstimmung. Bei der Abstimmung sprechen sich 93 Prozent der Isländer gegen die Rückzahlung aus.
Im Februar 2011 setzt Staatspräsident Ólafur Grímsson ein zweites Referendum über die Rückzahlung der Milliardenschulden bei den internationalen Banken an. Im März lehnt eine überwältigende Mehrheit der Isländer die Rückzahlung der Schulden ab. In der Zwischenzeit soll eine groß angelegte, von der Regierung initiierte Untersuchung feststellen, wer für die Krise die zivile und strafrechtliche Verantwortung trägt. Erste Haftbefehle gegen verschiedene Bankmanager und hochrangige Verwaltungsbeamte werden ausgestellt. Alle Banker, die bei der Katastrophe ihre Finger im Spiel hatten, verlassen Hals über Kopf die Insel. Von nun an fahndet Interpol nach ihnen.
Man wählt darüber hinaus eine Volksvertretung, deren Aufgabe es ist, die isländische Verfassung neu zu schreiben. Diese soll die aktuelle, nach dänischem Modell gestaltete Verfassung ersetzen und die Lehren aus der Krise berücksichtigen. Zu diesem Zweck wendet man sich direkt an den Souverän, das Volk. Aus 522 parteilosen Bürgern, die sich zur Wahl gestellt haben, werden 25 rechtsgültig bestimmt. Abgesehen von der Parteilosigkeit gibt es nur zwei Bedingungen für die Kandidatur: Der Kandidat muss volljährig sein und von mindestens dreißig Bürgern zur Wahl vorgeschlagen werden.
Die neue verfassunggebende Versammlung beginnt ihre Arbeit im Februar 2011 und stellt einen
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