Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Eliten Privilegien garantiert, auf die sie keinesfalls verzichten wollen. Den Preis dafür zahlen die Bürger in den Staaten nördlich des Mittelmeers, die vom Festschmaus der Oligarchen nichts abbekommen, in Form ebenso großer wie sinnloser Opfer, die man ihnen auch noch mit allerlei Lügen schmackhaft zu machen sucht. Klassisches Beispiel: Die Sparpolitik diene dem künftigen Wohl der Wirtschaft.
Der Erfolg der isländischen Restrukturierung zeigt uns, dass die Bevölkerung keine Angst davor hat, den Gürtel enger zu schnallen. Sie ist bereit, Verantwortung für begangene Fehler zu übernehmen. Als die Banker der Wall Street plötzlich Reykjavík überschwemmten, fragten die Isländer nicht danach, was an ihrer Insel für die Hochfinanz so verlockend sei. Kein Isländer streitet ab, dass das Land damals der betörenden Faszination schnellen Geldes erlegen ist. Doch die Isländer wollten nicht hinnehmen, was heute auch Europas Empörte auf die Straßen treibt: dass man ihnen von oben Opfer aufzwingt und sie ohne jedes Mitspracherecht für die Folgen geradestehen sollen, während die für die Katastrophe verantwortliche Elite ungeschoren davonkommt.
Die Französische Revolution hat uns gelehrt, dass der Souverän das Volk ist. Mittlerweile aber scheinen wir vergessen zu haben, warum: weil nur das Volk selbst für seine Interessen eintreten kann und wird. Heute geben ihm die Empörten aller Länder – unsere Kinder und Enkelkinder – eine Stimme. Die modernen europäischen Demokratien sind zu dekadenten Oligarchien verkommen, die sich keinen Deut um den Protest der Bevölkerung scheren. Doch wie in Nordafrika und im Mittleren Osten sind es die vom politischen Prozess Ausgeschlossenen leid, von den Regisseuren der Globalisierung als Statisten behandelt zu werden. Sie wollen zurück ins Rampenlicht, in die Mitte des Geschehens.
8 Das Meer der Ausgeschlossenen
Der Euro hat Ländern mit völlig unterschiedlich entwickelten Volkswirtschaften konkrete Vorteile verschafft. Sie ergänzen sich wechselseitig, doch mehr als dieser unmittelbare wirtschaftliche Gewinn war in den letzten zehn Jahren nicht festzustellen. Es ist den europäischen Ländern nicht gelungen, sich in anderer Hinsicht aneinander anzugleichen. Von der Währung und dem Durchschnittsalter der Bevölkerung einmal abgesehen, das in allen Mitgliedsländern bei ungefähr vierzig Jahren liegt, deuten die Zahlen der EU-Länder ganz im Gegenteil darauf hin, dass die Schere der wirtschaftlichen Ungleichheit immer weiter auseinandergeht: Wirtschaftswachstum im Norden, Bankrott im Süden. Auch was die sozialen und kulturellen Verhältnisse betrifft, unterscheidet sich Deutschland nicht erst seit gestern von Griechenland (wie die Niederlande von Portugal oder Belgien von Spanien). Es sind diese Unterschiede – und nicht der Euro –, die die Politik der einzelnen Länder prägen, welche im Wesentlichen für sich agieren.
Auch die Länder Nordafrikas und des Nahen Ostens zeigen kein einheitliches Bild, obwohl sie dieselbe Sprache sprechen und größtenteils diktatorisch regiert werden. Dort ist das Durchschnittsalter von circa 25 Jahren ebenfalls die einzige Gemeinsamkeit der verschiedenen Nationen, ihre Wirtschaftsdaten aber erzählen eine andere Geschichte, die die Einzigartigkeit jedes Volks dokumentieren und weiter festschreiben. Ihre Geschichte ist ebenso komplex wie die der europäischen Länder. Das Pro-Kopf-BIP Tunesiens zum Beispiel liegt doppelt so hoch wie das Marokkos, die Arbeitslosenquote aber liegt in Marokko bei 15 Prozent, während sie in Tunesien Höchstwerte von 40 Prozent erreicht. Das heißt nicht, dass der marokkanische Arbeitsmarkt effizienter wäre als der tunesische. Tunesien hat eine Emigrationsquote von 38 Prozent, Marokko nur von 0,4 Prozent.
Die Länder im südlichen Mittelmeerraum sind also keineswegs homogen, sondern ebenso verschieden wie die Staaten Europas. Wie kommt es dann, dass sich der Protest des jungen Tunesiers Mohamed Bouazizi, der sich vor dem Rathaus seiner Heimatstadt Sidi Bouzid selbst anzündet, zu einer Revolution auswächst? Und wieso springt dieser Funke dann auch auf das nördliche Mittelmeer über?
Vetternwirtschaft
Der gemeinsamen Nenner aller Aufstände in den arabischen Ländern war die Tatsache, dass die Bevölkerung von allen Belangen des Gemeinlebens ausgeschlossen war: von der Wirtschaft über die Politik bis hin zu sozialen und kulturellen Aktivitäten. Jeder, aber auch wirklich jeder Aspekt des
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