Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
Gerichtsmedizinern. Der jüngste Sohn Giacomo hat eine wahre Blitzkarriere als Mediziner hingelegt: Mit nur 28 Jahren wird er Assistenzprofessor, und als 31-Jähriger verleiht man ihm eine C2-Professur, nachdem er eine mündliche Prüfung zum Thema ›Herztransplantation‹ bestanden hat. Die Prüfungskommission setzte sich aus zwei Professoren für Hygiene und drei für Zahnmedizin zusammen.«
Und so stammen auch die italienischen Märtyrer, die sich aus Protest gegen die Vetternwirtschaft Gewalt antun wie jener junge Tunesier, vorzugsweise aus der akademischen Welt. In Palermo zum Beispiel beging 2010 der 27-jährige Doktorand Norman Zarcone Selbstmord, als ihm klar wurde, dass er nie einen Platz an der Universität erhalten würde. Auch in Frankreich ist Suizid die zweithäufigste Todesursache in der Altersgruppe der 15- bis 24-Jährigen. So tötet die unglaubliche Vetternwirtschaft und Korruption unsere Kinder!
Eines der drängendsten Probleme in Italien sind die berufsständischen Vereinigungen – ein äußerst fruchtbares Terrain für jede Art der Kastenbildung. Um Apotheker oder Notar zu werden, sollte man über verwandtschaftliche Beziehungen zu Mitgliedern der entsprechenden Verbände verfügen. Denn Ausschreibungswettbewerbe werden häufig manipuliert, wie im Jahr 2010 geschehen, als man auf die Zulassung für Notare entsprechend Einfluss nahm: Es gab 200 Stellen und mehr als tausend Kandidaten: Ganz zufällig beginnen einige der Kandidaten schon zu schreiben, noch bevor man ihnen die Aufgabenstellung vorgelesen hat. Der Skandal wird aufgedeckt, als man bemerkt, dass die Fragestellungen bereits vor dem Wettbewerb im Internet zirkulierten. Wie viele dieser Ausschreibungswettbewerbe sind wohl getürkt? Alle?
Am Mittelmeer sind alle Brüder
Im Norden Europas – in Deutschland, Holland und erst recht in den skandinavischen Ländern Norwegen, Dänemark, Schweden und Finnland – kennt man diese Art der Frustration kaum. Das kommt nicht von ungefähr, schließlich steht in diesen Ländern Korruption unter Strafe. In Großbritannien mussten mehrere Abgeordnete zurücktreten, weil sie kleine Summen öffentlicher Gelder für persönliche Zwecke eingesetzt hatten. Doch auch auf diesen Inseln der Seligen sind in den letzten zwanzig Jahren die Eliten der Privilegierten auf dem Vormarsch, und der Mittelstand verarmt zusehends. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die große Masse immer mehr vom öffentlichen Leben ausgeschlossen bleibt. Das Losungswort der Demokratie? Ungleichheit!
Einer Untersuchung der prestigeträchtigen amerikanischen Unternehmensberatung McKinsey zufolge ist auch in Deutschland der Mittelstand im Aussterben begriffen. Gehörten ihm im Jahre 2000 noch 62 Prozent der Bevölkerung an, sank diese Zahl bis 2010 auf 54 Prozent und wird 2020 voraussichtlich unter 50 Prozent liegen. Hauptgrund dafür ist die ungleiche Einkommensverteilung, die bis vor kurzem noch als typisches Merkmal weniger »fortschrittlicher« Regionen wie Nordafrika oder dem Mittleren Osten galt. Natürlich ist die Lage in Südeuropa schlimmer. Gerade einmal 43 Prozent der Bevölkerung haben ein Einkommen von 20.000 bis 60.000 Euro im Jahr und gehören somit zum Mittelstand – das sind 18 Prozent weniger als noch in den achtziger Jahren. Doch damit nicht genug: Ein Viertel der Bevölkerung gehört nunmehr zur Arbeiterklasse, während gut 20 Prozent unter der Armutsgrenze leben. Dazu passt, dass bei der spanischen Caritas die Anträge auf Unterstützung um 40 Prozent mehr geworden sind. Und in Italien, Portugal und Irland liegen die Dinge nicht anders.
Einer der Gründe dafür ist das unterschiedliche Wachstum von Privateinkommen und BIP, ein Phänomen, das seinen Ursprung in den neunziger Jahren hat und sich in den letzten zehn Jahren zunehmend verstärkte. In einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aus den Jahren 2008/09 ist denn auch zu lesen, dass die Gehälter von 2001 bis 2007 (also noch vor der Schuldenkrise) um weniger als 2 Prozent gestiegen sind, somit deutlich weniger als das Bruttoinlandsprodukt im selben Zeitraum. Dem spanischen Bundesamt für Statistik (Instituto Nacional de Estadística [INE]) zufolge lag 2006, als die letzte Volkszählung durchgeführt wurde, das Durchschnittseinkommen in Spanien bei 19.680 Euro im Jahr. Vier Jahre zuvor, 2002, betrug es 19.802 Euro. Trotz des Wirtschaftsbooms sind die Einkommen also gesunken! In den aufständischen arabischen Ländern zeigt sich dasselbe
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