Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
ich als Grafiker und bearbeite die Fotos eines bekannten Sportbekleidungsherstellers, dann wieder profitiere ich von meinem Sprachenstudium an der Uni und betätige mich als Französisch-Übersetzer. Oder ich schreibe Artikel für Internetseiten. Wenn ich überhaupt Arbeit habe, bekomme ich 5 Euro pro Stunde bzw. 2,09 Euro pro Übersetzungseinheit. Im letzten Monat habe ich 460 Euro verdient, die mir allerdings noch nicht ausgezahlt wurden. In diesem Monat dürften es 250 bis 300 Euro sein, sofern ich richtig gerechnet habe. Wenn ich dieses Geld dann am Bankschalter abholen kann, alles auf einmal, dann fühle ich mich eine Stunde lang reich.«
Bestimmt würde sich Marx zusammen mit den anderen großen Revolutionären, ja sogar mit den klassischen Wirtschaftswissenschaftlern im Grabe herumdrehen, wenn er dies hören könnte. Wir stehen hier vor einem Feudalsystem voller Privilegien und verschiedener Grade der Ausbeutung, die allein von der Herkunft bestimmt werden – ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt. Das ist nicht nur ungerecht. Es ist auch das sicherste Mittel, um die Wirtschaft tatsächlich zugrunde zu richten.
Das Schreckgespenst aller jüngeren Generationen im Mittelmeerraum heißt Arbeitslosigkeit – ein Horrorfilm, in dem unsere Kinder die Hauptrolle spielen. Vergessen wir Harry Potter, der Knüller des Jahrtausends ist der mediterrane Neorealismus! Vor dem Ausbruch der Schuldenkrise waren mehr als 30 Prozent der 18- bis 24-Jährigen in Griechenland, Frankreich und Portugal arbeitslos. Heute sind es noch mehr. Ist es ein Wunder, dass die prekär Beschäftigten ihr Privileg, ausgebeutet zu werden, verteidigen? Lieber eine unsichere Beschäftigung als gar keine.
Eine Arbeit zu ergattern ist, als habe man einen Schatz gefunden. In den achtziger Jahren waren die Abiturienten durchschnittlich zwei Jahre lang auf Arbeitssuche, heute sind es zehn. Wenn sie schließlich einen Job ergattert haben, ist das Gehalt gerade mal so hoch wie in den neunziger Jahren – zu wenig zum Leben. In Frankreich zum Beispiel verdienen Arbeitnehmer unter dreißig heute 40 Prozent weniger als die Fünfzigjährigen. Noch 1968 belief sich die Differenz auf nur 14 Prozent.
Es ist kein Zufall, dass die Bewegung der Empörten in Spanien entstanden ist. Von den sechs Millionen, die zwischen 1997 und 2010 dort Arbeit fanden, ist immer noch die Hälfte der 18- bis 35-Jährigen in einem prekären Arbeitsverhältnis beschäftigt. Das sind genau drei Millionen bei einer Erwerbsbevölkerung von 23 Millionen. Es überrascht also nicht, dass 26 Prozent der jungen Leute bei den Eltern leben. Während früher die Jungen den Alten halfen, ist es heute absurderweise umgekehrt. Die Zahl der jungen Spanier, die wirtschaftlich unabhängig sind, ist von 24 Prozent im Jahr 2004 auf 21 Prozent im Jahr 2008 gesunken, und es ist nicht damit zu rechnen, dass sich diese Tendenz umkehrt. Das ist ein Phänomen, das die gesamte westliche Welt kennt.
Gleichzeitig ist die Zahl der Langzeitstudenten erschreckend gestiegen. Laut der für Jugendpolitik in der EU zuständigen Stelle sind 15 Prozent der europäischen Vollzeitstudierenden über dreißig. Warum? Weil Bildung nicht nur ein Grund zur Hoffnung, sondern auch ein psychologischer Parkplatz ist. Leider zeigen Statistiken immer häufiger, dass eine längere Ausbildung nichts nutzt, um sich eine Stelle auf dem Arbeitsmarkt zu erobern. Der Prozentsatz derjenigen, die in einem befristeten Arbeitsverhältnis stecken und nie eine Festanstellung bekommen werden, sinkt keineswegs proportional zum Bildungsniveau, sondern steigt mit dem Alter: Bei den 15- bis 24-Jährigen sind es noch 37 Prozent, bei den 25- bis 29-Jährigen schon 65 Prozent.
Unter diesen Bedingungen wird das Leben immer schwieriger, die Unabhängigkeit zum unerfüllbaren Traum. 47 Prozent der jungen Italiener im Alter von 25 bis 34 Jahren leben bei ihrer Familie, weil es einfach nicht anders geht. In den PIIGS-Staaten können die jungen Leute nur mit Hilfe ihrer Eltern überleben. 2007 beschimpfte Tommaso Padoa-Schioppa, ehemaliger Finanzminister, die jungen Italiener der Generation Millennium als Muttersöhnchen und meinte, ihre Erfolglosigkeit auf dem Arbeitsmarkt habe mehr mit Faulheit oder mangelnder Initiative zu tun als mit Chancenlosigkeit. Das ist nicht nur beleidigend, das ist schlicht ein Denkfehler. Die jungen Leute sind nicht verantwortlich für ihre Misere, sie sind vielmehr ihr Opfer.
Hören wir dazu Anita, die Geologie und
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