Der Flächenbrand der Empörung - wie die Finanzkrise unsere Demokratien revolutioniert
auch nicht mehr. Denn die mediterrane Protestbewegung hat nichts Nonkonformistisches an sich – ganz im Gegenteil, ihr Ziel liegt ja gerade in der bürgerlichen Normalität: Was die Jugend sich wünscht, sind Arbeit, Wohnung und die Möglichkeit, eine Familie zu gründen.
Die Generation Millennium in den Mittelmeerländern lehnt sich auf, weil sie keine Hoffnung auf Wachstum oder Wohlstand hat. Die jungen Leute sind die großen Außenseiter im globalen Dorf, die Gespenster des Arbeitsmarkts. Ihre Jugend und das Gefühl des Ausgeschlossenseins wirken wie Brandbeschleuniger auf den Flächenbrand der Empörung.
Generation P
Die Spanier nennen sie »Generation 1000 Euro«, die Franzosen génération précaire , die Deutschen »Generation Praktikum« und die Italiener »Generation P«: P wie Prekariat. Sie sind gebildeter als alle Generationen vor ihnen – das gilt auch für die arabischen Staaten. In ihre Ausbildung wurde mehr Zeit und Geld investiert, als die vorhergehenden Generationen sich je träumen ließen. Trotzdem ist ihr Los die ungesicherte Beschäftigung, das Prekariat.
Allein in Spanien gibt es nach Berechnungen zehn Millionen junger Leute in ungesicherten Arbeitsverhältnissen, die tausend Euro im Monat oder weniger verdienen. Und das sind vermutlich noch längst nicht alle. 1995 lag das durchschnittliche Jahreseinkommen in Spanien bei 16.762 Euro, was nach Abzug der Inflation heute einem Realeinkommen von circa 24.000 Euro entspräche. Doch die Hälfte der Spanier verdient weniger, nämlich knapp 15.760 Euro im Jahr. (Das ist weniger als das Monatsgehalt eines italienischen Parlamentariers!) Die Lage in Griechenland oder Portugal ist nicht anders.
In Italien umfasst der Arbeitsmarkt etwa zwanzig Millionen Beschäftigte, drei bis fünf Millionen davon in prekären Arbeitsverhältnissen – mit befristeten Verträgen, ohne Rechte und ohne gewerkschaftliche Vertretung. Viele von ihnen sind im Kulturbereich tätig, zum Beispiel als Journalisten für Enthüllungs-Talkshows, aber auch für Verlage, die mit ihren Publikationen die Fehler der Politik anprangern. Fast alle haben entweder befristete Verträge oder arbeiten als Scheinselbständige mit Steuernummer. Diejenigen, die über die Missstände des Systems berichten, gehören gewöhnlich selbst zu dessen Opfern. Selbstverständlich entspricht die Bezahlung dieser Leute nur einem Bruchteil der Märchengehälter, welche die wenigen Gutverdiener einstreichen – Berater, Moderatoren und Führungskräfte.
Die fehlende Sicherheit hat das Lebensgefühl der neuen Generation geprägt, sodass sie darüber beinah ihre eigenen Rechte vergessen hat. Sie leben ständig unter der düsteren Bedrohung durch Arbeitslosigkeit und haben Angst, ihre persönlichen Erfahrungen publik zu machen, weil sie dann fürchten müssen, dass ihr Sklavendasein sich dem Ende nähert. So erklärte eine prekär beschäftigte Reiseführerin auf der Internetseite http://www.giovaniprecari.splinder.com schon vor einigen Jahren: »Ich bin Reiseführerin und habe in verschiedenen Museen gearbeitet. Ich habe einen Vertrag bis 2009 und werde nach Stunden bezahlt. Jede Woche bekomme ich einen neuen Arbeitsplan, im Allgemeinen sind es 30 Stunden pro Woche. In allen Museen, in denen ich gearbeitet habe, gab es eine unausgesprochene Regel: Wenn du immer schön brav, pünktlich und zuverlässig bist und nie meckerst, bist du uns sympathisch. Je sympathischer du uns bist, desto mehr Stunden geben wir dir. Gefällt uns hingegen deine Nase nicht, bekommst du weniger Stunden. Ich kenne Reiseführer, die 30 bis 40 Wochenstunden arbeiten, und andere, die nur 5 oder 6 Stunden pro Woche zum Einsatz kommen. Erklärungen gibt es nicht, und wenn man nachfragt, ist die Antwort immer die gleiche: Es gibt eben keine Arbeit für alle. Warum aber gibt es für manche Arbeit und für andere nicht?«
Das System lebt genau von dieser Ausweglosigkeit und von der Macht der Verträge. Die RAI, der staatliche Radio- und Fernsehsender in Italien, verlangt von ihren prekär beschäftigten Mitarbeitern beispielsweise, dass sie ein Schriftstück unterzeichnen, in dem sie auf jegliche Forderung gegenüber dem Arbeitgeber verzichten. Wer sich weigert, erhält keinen neuen Arbeitsvertrag. Niemand wehrt sich. Die Gewerkschaften vertreten nur die Interessen der Festangestellten, die schon abgesichert sind, hüten sich aber wohlweislich, sich zum Fürsprecher dieser »Randgruppe« aufzuwerfen. Was aber ist mit den dreißig
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