Der fliegende Brasilianer - Roman
noch nicht mit Sicherheit, ob er kommt, Herr Präsident.
Noch immer nicht! Wie ist das möglich? Was geht da vor?
Petitsantôs hat eine enttäuschte Liebe hinter sich. Und es war eine schöne Frau.
Schöne Frauen gibt es in Paris genug. Er findet eine andere.
Aber er ist launisch.
Oh! Dieses Latinoblut!
Den deutschen Botschafter amüsiert die Situation offensichtlich.
Der Sieg der Jakobiner Aimé gibt gedehnte Seufzer von sich. Dazon dreht nervös an seinem Schnurrbart. Gasteau und Chapin schleichen hartnäckig um das Reißbrett herum, auf dem Petitsantôs zeichnet. Dieser verrückte Mensch hebt nicht einmal den Kopf, um das Leiden seiner Mannschaft wahrzunehmen. Schließlich werden ihm Aimés Seufzer lästig.
Was zum Teufel ist hier eigentlich los?
Noch ist Zeit, Petitsantôs.
Zeit? Wofür ist noch Zeit? Sie ist schon außer Reichweite. Aber irgendwann, irgendwann werden meine Luftschiffe über das Meer fliegen …
Nein, wir sprechen nicht von ihr.
Nein?!
Wir sprechen von der großen Parade.
Heute ist der 14. Juli.
Alle erwarten Sie zur großen Parade.
Der Präsident Loubet …
Der General André …
Der Botschafter von Brasilien.
Alle werden enttäuscht sein.
Ach, darum geht’s, antwortet er enttäuscht und zeichnet zum Entsetzen der Mechaniker auf dem Reißbrett weiter. Aber dann geschieht das Wunder. Petitsantôs legt den Bleistift weg und sieht hinüber zur Nr. 9.
Ist alles bereit?
Die Mechaniker springen vor Freude in die Luft.
Sie fliegen also, Petitsantôs?
Petitsantôs nickt, greift nach seinem Rock und Hut und nimmt aus einer Schublade einen Revolver. Er überprüft, ob die Waffe geladen ist, und greift nach einer Schachtel Munition.
Was wollen Sie mit dem Revolver?
Lass gut sein. Diese Parade wird unvergesslich.
Die Mechaniker werden still und sehen zu, wie Petitsantôs den Revolver in den Bund steckt, seinen Rock anzieht und den Hut aufsetzt.
Dann schieben sie die Nr. 9 aus dem Hangar.
Der Sturm auf die Bastille Der Kriegsminister sieht als Erster die Nr. 9 am Horizont auftauchen. Er gibt dem Präsidenten ein Zeichen, und dieser lächelt sofort dem deutschen Botschafter zu. Droben vom Himmel sieht Petitsantôs auf die unzähligen Zylinder und die farbenprächtigen Militäruniformen herab. Er zieht eine sanfte Schleife über Longchamp und nimmt mit der Nr. 9 direkt Kurs auf die Köpfe der aufgestellten Truppen und die aufgereihten Artillerie-Kanonen. Das Luftschiff ist eine so beeindruckende Erscheinung, dass aller Blicke auf seine bauchige graue Form gerichtet sind, die jetzt ihren Kurs ändert und sich auf die Präsidententribüne hinbewegt.
Der Präsident Loubet verfolgt das Manöver, hebt den Arm und winkt. Die Nr. 9 kommt langsam tiefer, und Petitsantôs’ schlanke Gestalt ist deutlich zu erkennen. Da merkt der Präsident Loubet, dass irgendetwas nicht stimmt. Seine Leibwache entsichert die Waffen und zielt auf das Luftschiff; Frauen fallen in Ohnmacht, die Männer werfen sich zu Boden und halten sich schützend die Arme über den Kopf. Mitten in dem Tumult fleht der brasilianische Botschafter laut schreiend, die Wache des Präsidenten möge nicht schießen. Mit einem Ruck stößt der Präsident Loubet einen Soldaten beiseite, der ihn hinter einen Sessel drücken wollte. Er hebt den Kopf und sieht, wie Petitsantôs mit einem Revolver zielt und schießt. Völlig erstarrt hört er die Schüsse fallen. 21 Schüsse, zählt er. Als kein Schuss mehr fällt, kommt ihm der Gedanke, den Unseligen in die schwüle Hölle der Teufelsinsel zu schicken.
Erinnerungen eines brasilianischen Diplomaten Mein Gott, was für ein Durcheinander. Ich bin fast verrückt geworden. Der französische Außenminister wollte mich aufs Schafott schicken. Stundenlang habe ich am Quai d’Orsay irgendwelche durchsichtigen Erklärungen abgegeben. Die einzige Solidaritätsbekundung, die ich erhielt, kam vom Geschäftsträger der Türkei. Die Türken meinten, das sei ein Protest gegen die kolonialistische Haltung Frankreichs gewesen. Ich denke höchst ungern daran zurück. Versuchen Sie nur, sich die Situation vorzustellen: Ein Jahr zuvor waren die Franzosen von einem Skandal erschüttert worden. Sie hatten die Geschichte noch frisch in Erinnerung. Félix Faure, Präsident der Republik, war in einer verfänglichen Situation gestorben, während er mit seiner jungen Geliebten im Bett lag. Als wäre die Sache noch nicht eindeutig genug, ging zusätzlich das Gerücht um, er sei vergiftet worden.
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