Der fliegende Brasilianer - Roman
stellt ihr leeres Glas ab und möchte offenbar sehnlichst zu ihrem fliegenden Spielzeug zurück.
Meine Herren, ich muss meinen Flug fortsetzen.
Die Baronin umarmt das junge Mädchen und küsst sie auf die Wange.
Danke, Baronin, sagt Aída und küsst sie ebenfalls.
Mademoiselle, muss nicht vielleicht Gas in den Ballon nachgefüllt werden?
Das ist ein Santos-Dumont-Ballon, Monsieur Archdeacon.
Ja, ich weiß. Aber er braucht doch wohl Gas, oder?
Sie alle haben beobachtet, wie ich von Neuilly hierhergekommen bin. Habe ich Ballast abgelassen?
Ich glaube nicht.
Also, warum sollte der Ballon dann neues Gas brauchen?
Aída klettert in das Gestänge und steigt in die Gondel der Nr. 9. Sie wirft den Motor an, und Alberto lässt das Schlepptau los. Das Luftschiff steigt auf und zieht eine lange Schleife über dem Aéro Club. Die Menschen reden und gestikulieren. Mittendrin Alberto, der ihr glücklich nachsieht. Fast wie vom Schlag gerührt, nimmt Archdeacon einen Ballonfahrer am Arm und flüstert ihm, Aída nachäffend, zu: Haben Sie das gehört? Diese Arroganz? Das ist ein Santos-Dumont-Ballon, der muss nicht nachgefüllt werden.
Das Liederbuch der Königin Victoria Die Ereignisse überstürzen sich so sehr an diesem Tag, dass niemand zum Nachdenken kommt. Als alles vorbei ist, wandert Alberto fassungslos durch seine Wohnung und macht sich Vorwürfe, dass er nicht energischer aufgetreten ist, nicht tatkräftig Aída zur Seite gestanden und sie gegen das absurde Vorgehen ihrer Familie unterstützt hat, nicht verhindert hat, dass man sie auf diese Weise wegschleppt, wie eine Porzellanpuppe oder ein entlaufenes Haustier.
Irgendetwas hat ihn gelähmt. Etwas sehr Starkes, das ihn handlungsunfähig und machtlos gemacht hat gegenüber der rasenden Wut von Madame D’Acosta und der Arroganz von Aídas Vater. Aber was? Die Angst, sich zu binden, mit einem anderen Menschen sein Leben zu teilen, seine geheimsten Träume? Er will nicht darüber nachdenken. Noch nie hat er sich Gedanken über die Einsamkeit gemacht, und wenn er ehrlich sein soll, fürchtet er die Einsamkeit nicht und hat schon so manches Mal gedacht, dass allein leben das Gleiche sei wie frei sein.
Er ist seit vielen Jahren, von Kind auf, einsam. Er hat die harte, undurchdringliche Schale aller Einzelgänger. Außerdem brauchen seine Obsessionen die Einsamkeit, sie nähren sich gierig von dem verschlossenen, abgeschiedenen, stillen Leben, das er führt. Seit er Aída kennengelernt hat, steht das alles auf dem Spiel, die Stille ist gewichen, seine Privatsphäre ist nicht mehr abgeschieden, und sein Leben droht, sich tausend Zugeständnissen zu öffnen, sich darauf vorzubereiten, einem anderen Willen Zugang zu dem vermeintlich geschlossenen Kreis zu gestatten.
Im Grunde ist er nicht reif dafür, das hinzunehmen. Er will seine Schwäche auf keinen Fall eingestehen, aber die Angst ist von Tag zu Tag größer geworden, und er, ein einsamer Wolf, hat auf die Stunde der Entscheidung gewartet und gespürt, wie sie einem Schmerz gleich immer stärker wurde. Der Schmerz ist unerträglich geworden und hat in ihm die Erinnerung an die schönen Zeiten geweckt, als er nur für seine Träume lebte und keinem Menschen Rechenschaft schuldig war.
Deshalb hat auch dieses Mal der Panzer des Einzelgängers am Ende gesiegt. Der Schmerz lässt allmählich nach, wird sogar erträglicher, denkt er, obwohl er sich dieser Feststellung zutiefst schämt.
Alles ist sehr schnell gegangen. Aída hat den Preis des Erfolges gezahlt und mit Journalisten über den Flug gesprochen, den sie gerade absolviert hat. Sie kann sich vor Glück kaum beherrschen. Das Haus ist voll von Presseleuten, Freunden aus dem Aéro Club und Neugierigen, die aus der Nähe einen Blick auf die erste Frau werfen wollen, die mit einem Luftschiff aufgestiegen ist.
Dann der Skandal. Mutter und Vater des jungen Mädchens stürmen wie eine Lawine herein. Die Tochter wird hinausgezerrt, sie wehrt sich, bittet, fleht, während der Vater die Journalisten anbrüllt, die sich an der Szene ergötzen.
Er hat wie versteinert dagestanden. Hat zugesehen, wie Aída in der Menge verschwand, und keinerlei Anstalten gemacht, irgendetwas zu tun, hat einfach nur regungslos dagestanden, denn vielleicht ist ihm zur Rechtfertigung seiner Feigheit sogar am liebsten, dass sie auf diese drastische, skandalöse Art aus seinem Leben gerissen wird.
Der Skandal wird vertuscht und Aída noch am selben Tag auf den Weg nach New York
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