Der fliegende Brasilianer - Roman
Als Alberto den Blick zu den undeutlichen Konturen der Gestalt hebt, die in der Tür steht, bekommt er Angst, es könnte sich wieder einmal um eine seiner Halluzinationen handeln. Eine Frauenstimme flüstert: »Das Geheimnis der Luftschiffe von Monsieur Santos liegt darin, dass sie klein …« Alberto ergänzt: »… aus hochwertigem Material gebaut, leichter und widerstandsfähiger sind.« Sie scheinen sich auf dem Gebiet gut auszukennen, Mademoiselle, bemerkt er, und beide fangen an zu lachen.
Aída D’Acosta läuft zu ihm, umarmt ihn und küsst ihn auf das blasse Gesicht.
Alberto, Alberto, was ist mit dir?
Seit wann bist du hier?
Ich bin gestern angekommen, und ganz Paris spricht darüber.
Ich habe alles aufgegeben …
Das kann doch nicht sein!
Alberto nimmt Aídas Gesicht in beide Hände.
Du glaubst es nicht, stimmt’s?
Nein, ich kenne dich, Alberto. Mich kannst du nicht täuschen.
Inzwischen fliegen alle, Aída. Die Fliegerei ist zu einer Industrie geworden. Da ist für mich kein Platz mehr …
Das ist doch absurd. Das kann nicht dein Ernst sein …
Inzwischen fliegt alle Welt …
Aber genau das war es doch, wovon du geträumt hast.
Sie zieht den Kopf zurück und kniet sich vor ihn. Sie streckt eine Hand aus, will Albertos Gesicht berühren, aber er hält sie fest, küsst sie auf den Handrücken und entdeckt einen Ehering auf ihrem Finger.
Du hast geheiratet?
Ja, ich bin verheiratet. Und du, hast du nicht geheiratet?
Einen Moment herrscht Schweigen.
Nein, in meinem Leben ist alles schiefgegangen.
Wieder schweigen sie eine Weile, und sie nutzt die Gelegenheit und zieht ihre Hand zurück, die sie unbedingt verbergen zu wollen scheint.
Und er, wer ist er?
Henry?
Heißt er Henry?
Ja … er ist Anwalt, wir kannten uns schon länger … Er ist aus New York … arbeitet bei der Regierung …
Wie heißt du jetzt?
Breckinridge.
Wollen Sie die Wahrheit wissen, Senhora Breckinridge?
Sie nickt mit einer leichten Kopfbewegung.
Meine Mutter hat sich 1902 das Leben genommen.
Das tut mir sehr leid.
Es braucht dir nicht sehr leidzutun, sie war alt, krank, fast blind und abhängig. Meine Mutter war eine tiefgläubige Katholikin. Ihr Selbstmord war für mich immer ein Rätsel, ich konnte nicht begreifen, wieso eine so glühend überzeugte Katholikin wie sie ihrem Leben ein Ende setzen konnte. Jetzt weiß ich, warum sie die furchtbare Verdammung ihrer Religion auf sich genommen und sich umgebracht hat …
Aber, Alberto, was redest du da?
Meine Mutter war auch eine sehr stolze Frau, sie konnte die Demütigung, dass andere Mitleid mit ihr hatten, nicht ertragen. Das ist das Gefühl, das alte Menschen, Invalide und Kranke bei anderen erwecken: Mitleid. Da hat sie sich lieber umgebracht.
Bist du krank, Alberto?
Ja, Senhora Breckinridge. Ich leide an einer unheilbaren Krankheit, die mich nach und nach verkümmern lässt. Der Alberto, den du gekannt hast, den gibt es nicht mehr. Was von ihm noch existiert, ist ein Mann, dem es davor graut, bemitleidet zu werden.
Wir alle leiden auf die eine oder andere Art, Alberto.
Aber nicht alle genießen das Privileg, an multipler Sklerose zu leiden und weiterzuleben.
Du denkst doch nicht an … ans Sterben …
Du meinst, mich umzubringen?
Aída nickt und kämpft mit den Tränen.
Nein, keine Sorge, ich denke nicht daran, mir das Leben zu nehmen. Die Vorstellung, was der Tod bedeutet, ist mir nicht angenehm.
Na also. Warum dann diese Stimmung … Ein Mann wie du, was hat der zu befürchten?
In Vergessenheit zu geraten.
Du, in Vergessenheit geraten? Ausgeschlossen …
Was werde ich denn als Symbol meiner Anstrengungen hinterlassen?
Sehr vieles, Alberto, aber das Wichtigste ist vielleicht das, was allen Brasilianern gemein ist: die Freude am Leben.
Adieu, Senhora Breckinridge.
Adieu, Alberto.
Sie steht auf und geht, ohne sich umzudrehen, aus dem Raum. Alberto versucht, sich aus dem Sessel zu erheben, da fällt etwas von seinem Schoß und klirrt auf dem Fußboden. Er bückt sich und nimmt es auf. Es ist Aída D’Acostas Ehering.
Auf der Avenida Paulista Er hat in seinen letzten Tagen große Qualen gelitten, erinnerte sich Antônio Prado. Er war verbittert über die Richtung, die das Flugwesen eingeschlagen hatte. Von den Krisen der zum Verfall führenden Krankheit angegriffen, wurde Alberto schnell zu einem Wrack seiner selbst. Ich litt bei jeder Begegnung mit ihm.
Brasilien wird zivilisiert Antônio Prado kehrt 1918 endgültig nach
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