Der Fliegenfaenger
Teufel redete meine Oma in diesem Moment plötzlich von Kentucky Fried Chicken? Ich hatte ihr gerade Dinge anvertraut, die ich sonst keinem Menschen auf der ganzen Welt erzählen konnte! Doch meine Oma sagte bloß: »Oh, ich ess sie furchtbar gern! Es geht doch nichts über ein knuspriges Kentucky Fried Chicken!«
Und jetzt hätte ich es eigentlich merken müssen. Ich hätte merken müssen, dass mit meiner Oma etwas nicht stimmte. Denn normalerweise hätte meine Oma über die Banalität von paniertem, in gewachsten Pappschalen serviertem Fastfood-Geflügel die Nase gerümpft. Aber ich wollte einfach nicht, dass meiner Oma etwas fehlte. Und ich glaube, deshalb ignorierte ich ihre gelegentlichen Aussetzer; ich wollte einfach, dass meine Oma genauso war wie immer. Und als sie sagte: »Komm, hol mir meinen Mantel aus dem Flur, dann gehen wir zwei Hübschen heute Abend Kentucky Fried Chicken essen«, holte ich ihr den Mantel und wir zogen los. Und bis auf diese bizarre Veränderung ihrer Essgewohnheiten kam mir meine Oma wieder ganz normal vor. Sie erzählte mir von Wilfred Pickles, der im Krieg als Nachrichtensprecher tätig war, weil die Deutschen seinen Yorkshire-Akzent nicht verstanden. Sie erzählte mir, dass es während der großen Grippeepidemie in den Fünfzigerjahren so viele Tote gab, dass man sie teils in den großen Gefrierschränken der Metzgereien lagern musste, weil die Leichenhallen überquollen. Sie erzählte mir von den Blizzards 1947, die großes Leid verursachten und viele Todesopfer forderten, und von den verdorbenen Corned-Beef-Konserven, die in den Sechzigerjahren Tausenden von Menschen das Leben kosteten. Und weil das schrecklich interessant war wie alles, was meine Oma erzählte, fiel mir gar nicht auf, dass sie eigentlich nur von Dingen erzählte, die sich in der fernen Vergangenheit zugetragen hatten. Kein einziges Mal erwähnte sie Malcolm oder dass ich die Schule schwänzte und klaute. Es war, als hätte sie das alles gar nicht gehört.
Und als ich mit dem Bus nach Wythenshawe zurückfuhr, kam mir sogar der Gedanke, dass meine Oma sich vielleicht nur weigerte, all das zu glauben, was ich ihr erzählt hatte.
Vielleicht konnte sie es einfach nicht ertragen, dass sich ihr Lieblingsenkel zu einem Jungen entwickelte, der die Schule schwänzte und Briefe an seine Mam abfing. Und in der Stadt Ladendiebstahl beging. Ich wollte nicht, dass meine Oma sich für mich schämte. Und ich wollte auch nicht beim Klauen erwischt werden und schuld daran sein, dass es meiner Mam ganz, ganz schlecht ging. Und deshalb schwor ich mir an jenem Abend im Bus, dass ich von jetzt an nie mehr klauen würde. Ich würde sogar wieder in die Schule gehen und es einfach ertragen, wenn sie sagten, ich sei schwul und HIV-positiv. Und wenn sie mich verprügelten, weil sie mich für einen Perversen hielten, dann musste ich mich eben damit abfinden. Malcolm würde für immer nach Amerika zurückkehren, wo er hingehörte. Irgendwann würde meine Mam drüber hinwegkommen und dann war alles wieder gut. Und als ich zu Hause ankam, fühlte ich mich schon viel besser. Ich ging ins Wohnzimmer, wo meine Mam vor dem Fernseher hockte und den dunklen Bildschirm anstarrte. »Es ist alles in Ordnung, Mam«, sagte ich. »Tut mir Leid, dass ich abgehauen bin, aber jetzt bin ich wieder da und ab jetzt wird alles wieder gut, Mam, das verspreche ich dir.«
Aber gar nichts war gut. Denn meine Mam wandte ganz langsam den Kopf und starrte mich an. Und da wurde mir klar, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass ich weg gewesen war!
»Wann?«, fragte sie nur. »Wann?«
»Wann was?«, erwiderte ich.
»Wann gehen sie zurück? Malcolm und sein Dad?«
Ich sah meine Mam stumm an. Ich hätte es ihr so gern gesagt. Ich hätte ihr so gern gesagt, dass das alles Unsinn war und dass weder Malcolm noch sein Dad jemals existiert hatten. Aber ich wusste, das wäre für sie noch schlimmer gewesen, als wenn die beiden jetzt in die USA zurück mussten. Also zuckte ich die Achseln, schüttelte den Kopf und erklärte, ich wisse es nicht genau. Meine Mam stand auf und sagte, sie wolle früh ins Bett. Und ich sah ihr nach, als sie zur Tür wankte. Sie wirkte völlig erschöpft, als hätte man ihr alle Energie aus den Knochen gesaugt. An der Tür drehte sie sich noch mal um und sagte: »Ich würde Malcolm gern kennen lernen … nur ein einziges Mal, bevor er nach Amerka zurückkehrt. Frag ihn doch, ob er und sein Dad mal irgendwann zum Abendessen kommen … vor ihrer
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