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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Mam.
    »Raymond«, hörte ich Mr. Wilson sagen. »Niemand wird dich ausschimpfen.«
    Ich starrte weiter auf den Bildschirm. Meine Mam kam aus der Küche, blieb an der Tür stehen und tupfte sich mit einem Stück Küchenrolle die Augen trocken.
    »Wie konntest du nur?«, fragte sie. »Wie konntest du mir das antun? Ich hab ihn liebgehabt. Ich hab ihn richtig lieb gehabt, den Jungen!«
    Sie brach wieder in Tränen aus. Und ich hätte auch gern geweint. Aber es ging nicht.
    »Raymond, ich habe mich vorhin lange mit deiner Mam unterhalten«, sagte Mr. Wilson jetzt. »Sie hat mir einiges von dem erzählt, was passiert ist, bevor ihr nach Wythenshawe gezogen seid.«
    Ich nickte und starrte weiter auf Blue Peter ohne Ton.
    »Zum Beispiel … zum Beispiel, wie dich damals die Polizisten aus dem Wasser gezogen haben«, fuhr er fort. »Erinnerst du dich, Raymond?«
    Ich nickte wieder.
    »Und dass, äh … dass du … wie war das noch gleich, Raymond … der Falsche Junge gewesen bist.«
    Ich zuckte die Achseln. Es war komisch, in Blue Peter gab es gerade mal wieder einen Aufruf an die Kinder, ihre gebrauchten Sachen zu schicken, damit die Obdachlosen es im Winter warm hatten. Hoffentlich kriegten sie nicht zu viele Klamotten von Marks and Spencer’s, weil sonst die Obdachlosen zu den Blue Peter -Moderatoren sagen würden, sie sollten sich verpissen. Und das kommt bei Blue Peter bestimmt nicht gut, wenn Obdachlose so etwas sagen.
    »Das fand ich sehr interessant, Raymond«, meinte er. »Ja. Ich fand es wirklich sehr interessant, was mir deine Mam da von dieser, äh … Episode mit dem Falschen Jungen erzählt hat. Und von diesem, äh, diesem … Malcolm, Raymond. Ich finde das, äh … faszinierend, Raymond. Sehr faszinierend.«
    Ich starrte weiter auf den Bildschirm. Aber da sagte meine Mam: »Sie hätten ihn hören müssen, Mr. Wilson! Sie hätten hören müssen, wie er Malcoms Stimme nachmachte … ich schwöre bei Gott, Mr. Wilson, Sie hätten ihm auch geglaubt! Sie hätten hundertprozentig geglaubt, dass es Malcolm wirklich gibt.«
    Mr. Wilson hob beschwichtigend die Hand und sagte zu meiner Mam: »Shelagh, machen Sie sich keine Sorgen. Glauben Sie mir, ich weiß genau, wie überzeugend ein Mensch in einer solchen, äh … Situation wirken kann. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass es vollkommen glaubhaft war, Shelagh. Das weiß ich aus den Fallgeschichten, die ich studiert habe. Sehen Sie, Shelagh, wenn ich mich nicht irre, dachte Raymond vermutlich wirklich , dass er die Wahrheit sagt. Ist es nicht so, Raymond? Als du deiner Mam alles über diesen … Malcolm erzählt hast, da hast du ihr doch keine Lügen aufgetischt, oder?«
    Ich sah ihn bloß an. War er bekloppt oder was? Natürlich hatte ich ihr Lügen aufgetischt!
    Riesige fette Monsterlügen! Er war dumm. Er gefiel mir nicht. Und vor allem gefiel es mir nicht, dass er meine Mam dauernd »Shelagh« nannte.
    Ich drehte mich weg und starrte wieder auf den Bildschirm. Und er fuhr fort: »Was dich betrifft, Raymond, war dieser Malcolm real, nicht wahr? Er war doch real?«
    Ich starrte auf den Nachspann von Blue Peter .
    »Hab ich Recht, Raymond?«, fragte er. »Du hast doch geglaubt, dass dieser amerikanische Junge eine reale Person ist?«
    Ich nickte. Denn auf eine Art war Malcolm tatsächlich real gewesen. »Er war real«, sagte ich.
    Aber da brach meine Mam wieder in Tränen aus und sagte: »Du! Du! Wie kannst du so etwas sagen? Das war gemein, was du getan hast, richtig gemein!«
    Wilson beruhigte meine Mam und sagte, ein Wort wie »gemein« sei hier überhaupt nicht angebracht. Meine Mam erwiderte, es tue ihr Leid und sie bemühe sich ja, das alles zu verstehen, aber wenn man so belogen und betrogen und zum Narren gehalten worden sei, dann sei es nicht immer so leicht, Verständnis zu zeigen. Mr. Wilson sagte, er wisse genau, was meine Mam empfinde.
    »Aber trotzdem sollte uns das nicht davon abhalten, die Sache so nüchtern wie möglich anzugehen«, erklärte er meiner Mam. Und mich fragte er: »In welcher Hinsicht, Raymond? In welcher Hinsicht war dieser Malcolm für dich ein realer Junge?«
    »Er war es eben«, antwortete ich, während im Fernseher John Craven’s Newsround begann. »Malcolm war real. Weil er ich war.«
    Ich sah Mr.Wilsons Spiegelbild auf dem Bildschirm. Er warf meiner Mam einen Blick zu und nickte langsam, als hätte ich ihm gerade irgendwas bestätigt.
    »Wie meinst du das, Raymond: Malcom war du?«, fragte er.
    Ich zuckte die Achseln.

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