Der Fliegenfaenger
»Weil er es eben war«, sagte ich. »Malcolm war der Junge, der ich früher einmal gewesen bin.«
Mr. Wilson nickte erneut. Dann sagte er: »Aha. Dann warst du früher also ein amerikanischer Junge, Raymond?«
Ich schüttelte nur den Kopf und sah zu, wie sich John Craven in Afrika oder sonstwo sehr nett mit irgendwelchen Leuten unterhielt.
»Nein«, sagte ich. »Das hab ich erfunden, dass er Amerikaner war. Und dass er einen Vater hat.«
Jetzt brach meine Mam erneut in Tränen aus. »Und sie strenggläubige Muslime sind«, sagte sie. »Damit sie ja nicht zum Abendessen kommen.« Und dann fiel ihr noch etwas anderes ein. »Der Pullover!«, sagte sie. »Ich habe Malcolm doch einen Pullover gekauft und weiß noch nicht mal, was mit dem passiert ist. Und du«, sagte sie, »du hast die Frechheit, mir zu sagen, dass du Malcolm warst!« Jetzt schrie sie mich an, sie schrie und weinte gleichzeitig. »Ich weiß jetzt genau, dass das einfach du warst, einfach nur du! Aber du rückst ein bisschen spät damit raus, findest du nicht? Du rückst ein bisschen spät damit raus, dass du mir bloß was vorgeflunkert hast!«
Mr. Wilson stand vom Sofa auf, ging zu meiner Mam rüber und sagte, es sei für alle Beteiligten besser, wenn sie doch bitte versuchen könnte, ruhig und vernünftig zu bleiben. Meine Mam nickte und bat ihn wieder um Entschuldigung.
Und Mr. Wilson sagte: »Schon gut, Shelagh, schon gut.«
Und da ich nicht wollte, dass er mit meiner Mam redete, drehte ich mich zu ihr um und sagte: »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich muss mich entschuldigen. Aber ich hab dir nicht nur was vorgeflunkert. Ich hab Malcolm erfunden, weil ich wusste, dass du ihn lieb haben würdest. So wie du mich früher mal lieb gehabt hast. Und am liebsten hätte ich mich selber nach Amerika zurückgeschickt und dir Malcolm dagelassen!«
Ich beobachtete das Gesicht meiner Mam, als ich das zu ihr sagte. Und ihr Gesicht verzog sich zum Weinen, aber ganz anders als vorhin. Und ich weiß, alles wäre wieder gut geworden, wenn wir allein gewesen wären, ich und meine Mam, und wenn sie in aller Ruhe mit mir geredet und mir gesagt hätte, dass sie mich nie für einen anderen Jungen eintauschen würde, egal welche Probleme wir auch hatten, nicht mal für einen so wundervollen Jungen wie Malcolm.
Aber nicht meine Mam redete mit mir, sondern Wilson. Und der sagte jetzt: »Raymond … schon gut, Raymond. Du siehst, deine Mam versteht dich. Sie ist natürlich ziemlich ärgerlich. Das wäre jede Mutter. Aber wie ich ja schon sagte: Deine Mam ist eine intelligente Frau. Und wenn sie dich vorhin auch ein bisschen angeschrien hat, ist ihr im Grunde doch bewusst, dass wir uns mit diesem Problem so vernünftig und erwachsen wie möglich befassen sollten.«
Ich wollte einfach nur, dass er den Mund hielt! Ich wollte, dass er endlich ging und mich und meine Mam allein ließ. Aber es sah so aus, als wolle er nie mehr gehen, denn jetzt setzte er sich auf die Armlehne des Sofas und sagte: »Raymond, ich will, dass du mir mal gut zuhörst. Tust du mir den Gefallen?«
Ich weiß nicht, warum er mich das überhaupt fragte, denn was blieb mir schon anderes übrig? Er redete ja ununterbrochen!
»Tust du mir den Gefallen?«, wiederholte er.
Ich nickte.
»Also, Raymond,«, sagte er, »ich weiß zwar nicht, wie viel du davon verstehen wirst, aber ich möchte dir jetzt etwas erklären. Zu deiner Mam habe ich schon gesagt, dass ich mich in diesen Dingen kaum als Experte bezeichnen kann. Aber ich habe nicht nur langjährige Erfahrung als Lehrer, sondern ich bin auch so eine Art Student, Raymond. Das überrascht dich, was?«
Nein, es überraschte mich überhaupt nicht. Das Einzige, was mich überraschte, war die Tatsache, dass Typen wie er auf die Menschheit losgelassen wurden!
»Also«, fuhr er fort, »ich weiß nicht, ob du schon mal was von der Open University gehört hast, Raymond.«
Er machte eine Pause, als warte er auf eine Antwort. Aber da konnte er lange warten. Ich mochte ihn nicht. Ich mochte Männer nicht, die sich einfach auf unsere Sofalehne setzten und meine Mam »Shelagh« nannten, obwohl sie sie kaum kannten. Und außerdem gefiel es mir nicht, dass er so tat, als hätte ich noch nie etwas von der Open University gehört. Jeder kennt die Open University. Ich hatte sie schon oft mit meiner Oma im Fernsehen angeschaut und einiges gelernt, zum Beispiel über Prometheus, den man an einen Felsen geschmiedet hatte, oder über das intelligente
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