Der Fliegenfaenger
fast alles getan, um nicht mehr in die Schule zu müssen.
»Na gut, Raymond«, sagte er. »Dein Beitrag zu diesem Deal besteht darin, dass du dich einer Einschätzung unterziehst und deshalb an zwei bis drei Nachmittagen pro Woche in die psychologische Beratungsstelle gehst.«
»Warum?«, fragte ich argwöhnisch. »Warum soll ich das tun?«
Er sah mich an und lachte. »Raymond! Raymond!«, sagte er. »Du scheinst ja nicht viel Vertrauen in Erwachsene zu haben, wie?«
Ich zuckte nur die Achseln.
»Aber mir kannst du vertrauen, Raymond«, sagte er. »Hundertprozentig. Ich kann mir vorstellen, wie du deine Lehrer erlebt hast, Raymond; als Autoritätspersonen, die dich im Stich gelassen haben; die dir vielleicht sogar Dinge vorgeworfen haben, für die du gar nichts konntest. Mit mir wirst du das nicht erleben, Raymond. Ich glaube nicht an Schuldzuweisungen. Ich weiß, es gibt viele Leute, die einem Kind, das Probleme hat, allzu gern die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Aber ich nicht, Raymond; das ist nicht meine Art. In den meisten Fällen ist es doch so: Wenn ein Schüler Probleme an einer bestimmten Schule hat, dann schiebt man alles auf den Schüler und sagt, es sei ausschließlich seine Schuld. Aber diesen Ansatz lehne ich ab, Raymond.« Er nickte mir zu. »Und weißt du warum?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Weil das Problem vielleicht die Schule ist, Raymond«, sagte er, »und der Schüler gar nichts dafür kann!«
Jetzt sah er ziemlich selbstzufrieden aus. Aber ich muss sagen, ich war auch zufrieden. Weil er nämlich Recht hatte. Wenn es eine nette Schule gewesen wär, hätte ich ja nie geschwänzt!
»Und das ist der einzige Grund«, sagte er. »Ich will dich einschätzen lassen; denn vielleicht stellt sich ja heraus, dass deinen schulischen Bedürfnissen eine andere, passendere Einrichtung besser gerecht wird.«
»Eine andere Schule?«, fragte meine Mam.
Wilson nickte. »Vielleicht, Shelagh«, sagte er, »vielleicht.«
Jetzt sah mich meine Mam an. »Was hältst du davon?«, fragte sie.
Ich nickte. »Ja, ich glaub, das wär gut«, antwortete ich.
»Du wirst es also tun?«, fragte sie. »Du wirst tun, was Mr. Wilson sagt, und in die psychologische Beratungstelle gehen?«
Ich nickte wieder. Und dann bat mich meine Mam, ihr und Mr. Wilson zu versprechen, dass ich auch wirklich hingehen und nicht wieder schwänzen würde.
Ich versprach es beiden.
Dann sagte meine Mam: »Und eigentlich solltest du dich bei Mr. Wilson bedanken, oder?«
Und als ich mich bedankte, meinte ich es wirklich ernst und hatte sogar Gewissensbisse, weil ich ihn als Mutanten bezeichnet hatte; denn obwohl er so langweilig und herablassend war und so viel laberte, war ich ihm unglaublich dankbar, dass ich nicht mehr in die Schule musste. Meine Mam dankte ihm ebenfalls und sagte, sie wisse wirklich nicht, was sie ohne seine Hilfsbereitschaft getan hätte.
Da lächelte er meine Mam an und sagte, schon auf dem Weg zur Tür: »Shelagh, wenn ich einer Frau wie Ihnen einen kleinen Gefallen tun kann, ist das doch das reinste Vergnügen für mich!«
Ich wusste nicht, was er damit meinte – »einer Frau wie Ihnen«. Und komisch, jetzt lachte meine Mam ganz verlegen und abwehrend, zuckte die Achseln und schlug die Augen nieder. Was war denn mit ihr los? Sie benahm sich ja plötzlich wie ein Teenager!
Aber jetzt wandte sich Wilson noch einmal an mich. »Raymond«, sagte er. »Ich überlege gerade, ob …« Aber dann brach er ab, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein! Nein, lieber nicht.«
Und er war schon halb zur Haustür hinaus, da fragte meine Mam: »Was denn, Mr. Wilson? Was wollten Sie eben sagen?«
Er kratzte sich am Kopf und meinte: »Nun ja … es ist nur … mir kam nur plötzlich der Gedanke – ich habe doch vorhin mein Psychologiestudium erwähnt. Nun ja, im Rahmen dieses Studiums muss ich einen jungen Menschen betreuen. Eine Art Fallstudie. Und da habe ich mir gerade überlegt, ob Raymond eventuell mitmachen würde. Es wäre fast kein Aufwand damit verbunden. Ich müsste Raymond nur ab und zu sehen, ein paar Fragen an ihn richten und quasi ein Persönlichkeitsprofil erstellen.«
Aber dann sah er wohl meinen finsteren Blick.
»Tja, vielleicht lieber nicht«, meinte er. »Ich sehe schon, Raymond ist nicht gerade begeistert von dieser Idee.«
Da hatte er allerdings Recht! Raymond war von dieser Idee überhaupt nicht begeistert. Aber nun schaltete sich plötzlich meine Mam ein: »Doch, Mr. Wilson! Raymond würde das
Weitere Kostenlose Bücher