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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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bestimmt gern für Sie tun, nicht wahr, Raymond?« Und zu mir sagte sie: »Du würdest Mr. Wilson doch gern bei seinem Studium helfen?«
    Und ohne meine Antwort abzuwarten, drehte sie sich wieder um und teilte ihm mit: »Raymond würde sich freuen, Ihnen helfen zu können, Mr. Wilson. Nachdem Sie so freundlich zu uns waren«, sagte sie, »wäre das eine Freude für ihn. Für uns beide. Und wenn es Ihnen bei Ihrem Studium hilft, ist das ja das Mindeste, was wir tun können.«
    Dann drehte sie sich wieder zu mir und fragte: »Hab ich Recht, Raymond?«
    Und ich stand da wie vor den Kopf geschlagen, stumm, gelähmt, mit schiefem Lächeln und nickte pflichtbewusst.

    Und so begann die Invasion der Mutanten, Morrissey; und Wilson, der Obermutant schlich sich in mein Leben ein und in das meiner Mam. Nachdem sie ihn an jenem Abend hinausbegleitet hatte, sagte sie zu mir, ich hätte sehr, sehr großes Glück, dass sich ein Mann wie Mr. Wilson für mich interessiere. Und da ich heilfroh war, nicht mehr in die Schule zu müssen, stimmte ich ihr zu. Dann sagte meine Mam, dieser Mr. Wilson scheine ja ein sehr, sehr netter Mann zu sein. Und wahrscheinlich hätten schon damals sämtliche Alarmglocken bei mir schrillen müssen. Aber er war so ein Typ in Strickjacke, Cordhose und braunen Wildlederschuhen! Und außerdem wirkte er viel älter als meine Mam. Deshalb hörte ich kaum hin, als meine Mam erwähnte, Mr. Wilson habe selbst keine Kinder.
    »Er hat mir vorhin erzählt«, sagte meine Mam, »dass er seine Frau verloren hat, kurz vor der letzten Olympiade. Sie war noch ganz jung. Lebensmittelvergiftung. Offenbar Muscheln. Während des Urlaubs in der Dordogne. Da sind sie jedes Jahr hingefahren.« Meine Mam schüttelte teilnahmsvoll den Kopf. »Ist das nicht schrecklich?«, fragte sie.
    Ich nickte. Und in Gedanken sah ich diese Frau vor mir am Tisch: Sie ist nach vorn gekippt, und ihr gegenüber sitzt ihr Mann, der Mutant, und redet immer noch auf sie ein und labert und labert und hat gar nicht bemerkt, dass seine Frau, brutal zu Tode gelangweilt, umgekippt ist und ihr Kopf jetzt mit dem Gesicht nach unten leblos in der vollen Muschelschüssel liegt.
    »Wahrscheinlich hat er deshalb sein Psychologiestudium begonnen«, sagte meine Mam, »um diese große Lücke auszufüllen.«
    Und vielleicht hatte meine Mam ganz Recht; vielleicht füllte er ja wirklich eine Lücke aus. Aber damals wusste ich nicht, dass ich aus diesem Grund nach Sunny Pines musste. Und dann nach Swintonfield. Ich wusste nicht, dass Wilson einen Bericht über mich schrieb; dass er am selben Abend den anderen Psychologie studierenden Mutanten der Open University von einem »interessanten Fall« erzählen würde; von einem Jungen, den er kenne, einem Jungen, für den er sich persönlich interessiere; von einem Jungen, der viele klassische Symptome einer psychischen Störung aufweise, die vermutlich aus einer latenten funktionellen Psychose resultierten, welche sich im Lauf der Zeit durchaus deutlicher manifestieren könne!
    Von all dem wusste ich damals nichts, Morrissey; noch nicht.

    Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks

Ein Bus,
Motorway M62,
unterwegs nach Grimsby

    Lieber Morrissey,

    ich dachte mir ja schon, dass es in Grimsby grauenvoll werden wird. Aber falls die Busfahrt irgendwelche Rückschlüsse auf später erlaubt, scheine ich die wahre Dimension des abgrundtiefen Grauens selbst in meinen schlimmsten Alpträumen drastisch und dramatisch unterschätzt zu haben! Ich weiß, ich sollte dankbar sein, weil es ein Privatbus ist; und wenn sie mich nicht mitgenommen hätten, hätte ich die ganze Nacht in Huddersfield festgesessen. Aber so hässlich Huddersfield auch sein mag, es wär mir vielleicht doch lieber gewesen, als fünfeinhalb Stunden auf engstem Raum mit Grimsbys Einzelhändlerelite zusammengepfercht zu sein. Da es lauter Geschäftsinhaber sind, hätte ich eigentlich erwartet, dass sie einen gewissen Grad jener Kultiviertheit und Mäßigung besitzen, die doch im Allgemeinen von kleinbürgerlichen Rotariern so geschätzt wird. Aber sie waren alle sturzbesoffen! Es waren zwar Herrschaften mittleren Alters, doch kaum hatte sich der Bus in Bewegung gesetzt, brachen sie in Jubelgeschrei aus wie Schulkinder, die einen Ausflug machen. Und wir hatten noch nicht mal die M62 erreicht, da grölten sie schon »My Way« und »New York, New York«. Dann trat eine dramatische Wende zum Schlimmeren ein, als plötzlich eine Frau mit fülligem Busen und hochtoupierter

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