Der Fliegenfaenger
Schule gekommen, und ich hatte mir den ganzen Tag eingeredet, dass es keinen Grund zur Sorge gebe und dass Twinky wahrscheinlich nur erkältet war oder Norman verschlafen und den Bus verpasst hatte. Wenn nämlich einer von beiden mal nicht in die Schule konnte, blieb auch der andere weg. Also hatte ich mir so etwas eingeredet. Aber als die nächste Stunde anfing und ich im oberen Stockwerk durch den Korridor ging, kam mir Chantelle Smith entgegen. Sie warf mir den Umschlag einfach zu und sagte: »Da! Die kleine Schwuchtel hat gesagt, ich soll dir das geben! Ich wette, es ist ein Valentinsgruß. Und dabei ist doch erst nächste Woche Valentinstag!«
Chantelle rannte davon. Und ich stand da und betrachtete den Umschlag. Und ich wusste es, bevor ich ihn aufgemacht hatte!
Ich wusste es!
Lieber Raymond, liebster Fliege,
wir sind weg. Es ging nicht anders, Fliege! Eigentlich wollten wir dich ja mitnehmen. Aber das wär nicht gut gewesen, Fliege, weil wir ganz schön Ärger kriegen würden, wenn wir dich mitgenommen hätten, wo du doch noch so jung bist. Bis jetzt dachten wir immer, wir könnten warten, bis du alt genug bist. Weil wir dich doch lieb haben, Fliege. Und deshalb dachten Norman und ich, wir könnten warten, bis du sechzehn bist und alt genug, die Schule zu verlassen. So hatten wir es geplant, weil wir ja eigentlich auf dich warten wollten. Aber jetzt konnten wir nicht mehr warten. Es ist wegen Normans Dad, Fliege. Gestern Abend kam Norman zu uns. Sein Dad hatte ihn wieder mal verprügelt. Ich musste Norman ins Krankenhaus bringen, und die haben gesagt, es seien ein paar Rippen gebrochen. Aber es kommt noch schlimmer, Ray, denn das, was dieser Dreckskerl ihm angetan hat, hat Norman auch das Herz gebrochen. Und ich weiß, dass Norman es nicht mehr ertragen kann. Ich weiß, wenn ihn sein Dad noch ein einziges Mal anrührt, geht Norman auf ihn los. Und wenn er das tut, könnte für ihn alles aus sein, denn dann bringt er seinen Dad vermutlich um oder verletzt ihn so schlimm, dass er genau die Schwierigkeiten kriegt, denen er jetzt so lange erfolgreich aus dem Weg gegangen ist.
Und deshalb, Fliege, hauen wir ab, Norman und ich. Wenn irgendjemand dich nach uns fragt, sag einfach, du wüsstest nicht, wo wir hingegangen sind, doch wahrscheinlich sehr weit weg, wo man uns niemals finden wird.
Wenn wir uns zurechtgefunden haben und irgendwo untergekommen sind, schreib ich dir wieder. Ich weiß, dass dir das wehtun wird, Fliege, und ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass ich dir diesen Brief nicht schreiben müsste. Aber ich muss es tun, Fliege. Und es tut mir so Leid, dass du nicht mit uns kommen kannst!
Norman sendet dir liebe Grüße und sagt, ich soll dir schreiben, dass es ihm auch Leid tut. Und er sagt auch, dass wir eines Tages auf jeden Fall wieder zusammen sein werden. Und ich weiß, dass er Recht hat. Ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem wir alle drei zusammen die Straße von Messina durchqueren werden.
Alles Liebe
Twinky und Norman
PS: Bitte entschuldige meine Schrift. Ich weiß, sie ist grässlich. Aber das ist etwas, das ich nie richtig gelernt habe.
Ich stand da, starrte auf den Brief und meine Augen füllten sich mit Tränen. Twinkys schöne, gestelzte Schrift sah aus, als würden die Worte auf dem Wasser schwimmen, während ich sie verständnislos anstarrte.
Ich begriff überhaupt nichts! Das war doch nicht möglich! Das musste ein Irrtum sein! All die Pläne, die wir gemeinsam geschmiedet hatten; dass wir drei immer zusammenbleiben würden; dass wir drei zusammen nach London fahren würden; dass wir drei zusammen in der wundervollen Welt des West End leben würden; und jetzt waren sie ohne mich gefahren. Twinky und Norman hatten mich zurückgelassen!
Dass ich weinte, merkte ich erst an dem Geflüster rings um mich rum: »Er weint! Scheiße, Fliege weint!«
Man fragte mich, was denn los sei. Aber ich drehte mich auf dem Absatz um, lief den Korridor lang und rannte die Treppen runter. Die andern riefen mir nach, wo ich hinwolle, aber ich rannte einfach weiter – die Treppen runter, aus der Schule raus und übers Feld, ich rannte und rannte, so schnell ich konnte, fast blind vor Tränen und voller Schmerz, vermischt mit Panik und dem Gefühl, dass alles auseinander brach. Sie hatten mich verlassen! Twinky und Normann hatten mich zurückgelassen! Ich rannte aus Leibeskräften, wie Norman es mir beigebracht hatte; ich rannte und rannte, übers Feld, über den Graben und hinein in
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