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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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den Wald, so wie ich mit Twinky und Norman gerannt war; ich rannte und weinte und schrie ihre Namen, ich rannte aus Leibeskräften, wie Norman es mir gezeigt hatte, um den Schmerz zu überwinden, die Barriere zu durchbrechen, damit es nicht mehr wehtat. Doch egal wie schnell ich rannte, diesmal hörte der Schmerz nicht auf.
    Ich lehnte an unserem Baum und las den Brief noch einmal, versuchte alles zu verstehen, sagte mir selber, dass ihnen keine andere Wahl geblieben war und Norman es nicht mehr ausgehalten hatte. Und das verstand ich ja sogar. Ich wollte nicht, dass mein Freund immer weiter misshandelt und verprügelt wurde und Schwierigkeiten kriegte; aber trotzdem, sie waren weg. Meine Freunde … sie waren weg!
    Ich stand eine Ewigkeit unter dem Baum, wo Norman und ich, und manchmal auch Twinky, gesessen hatten, um uns auf halber Strecke vom Laufen auszuruhen; wo Norman mir immer den Pulsschlag nach dem Laufen und nach der Pause gemessen hatte. Und dann hatte er immer gesagt: »Hey, echt geil, Fliege, super! Super gut!«
    Aber das war jetzt vorbei. Und es spielte keine Rolle mehr, ob mein Puls nach der Pause »super gut« und ich wieder so schlank wie früher war. Sie waren weg.
    Während ich unter der Buche stand, wurde der Wind stärker und heulte durchs Geäst. Und plötzlich spürte ich, wie kalt es war. Der Boden war steinhart gefroren, und der fiese Februarwind pfiff durch die kahlen Zweige, die vor dem dunkler werdenden Himmel zitterten. Einst hatte durch dieselben Äste die Sonne geschienen und es war wie im Paradies gewesen. Aber jetzt gab es keine Sonne mehr.
    Ich wollte nicht heimgehen. Ich wollte nicht, dass meine Mam mich fragte, was los sei. Meine Mam würde es nicht verstehen. Sie hatte das mit Norman und Twinky ja noch nie verstanden. Sie hatte eigentlich überhaupt nichts mehr verstanden, seit er da war, seit der Invasion des Mutanten! Ich wollte nicht nach Hause zurück. Ich wollte nach London. Zu meinen Freunden. Aber ich war noch zu jung, um nach London abzuhauen. Ich hatte ja nicht mal genug Geld. Und selbst wenn ich es bis London schaffte, hätte ich gar nicht gewusst, wo ich Norman und Twinky finden könnte. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen.
    Als ich zur Schule zurückkam, war sie bereits geschlossen und der Minibus abgefahren. Es wurde dunkel und ich musste den ganzen Weg nach Wythenshawe zu Fuß gehen. Aber das ließ mich kalt. Und auch der schneidende Wind ließ mich kalt. Mir war nichts mehr wichtig. Alles hatte für mich keinen Sinn mehr, jetzt, wo meine Freunde ohne mich abgehauen waren. Es ließ mich sogar kalt, dass meine Mam mich nicht verstehen würde. Alles ließ mich kalt; glaubte ich zumindest.
    Aber dann bog ich in Wythenshawe kurz vor unserem Wohnblock um die Ecke und ging auf den Parkplatz zu.
    Ich war nicht mal überrascht! Ich war wie gelähmt, so als wär ich auf ein Zehntausendvoltkabel getreten, als ich das Auto des Mutanten sah. Und drin im Wagen, gegen das Licht, das aus der Maisonettewohnung unter uns fiel, sah ich zwei dunkle Silhouetten. Ich wollte es nicht glauben. Ich wollte mich einfach umdrehen und weglaufen. Aber meine Beine waren wie zwei in die Erde gerammte Pfosten, und meine Füße waren wie Bleiklumpen, deshalb blieb ich reglos im Dunkeln stehen, starrte hinüber und hoffte, dass es jemand anderes war; dass es jemand anderes war, der sich zum Beifahrersitz rüberneigte; dass es jemand anderes war, der die Arme nach ihm ausstreckte und ihn umschlang, jemand anderes, der umarmt wurde; zwei andere Leute, nicht sie! Nicht meine Mam! Nicht meine Mam und der Mutant, die da im Wagen saßen und sich küssten! Doch dann ging die Beifahrertür auf und meine Mam stieg aus; und da musste ich es glauben. Ich sah, wie sie ihm zum Abschied lächelnd zuwinkte. Und ich sah auch, wie ihr Lächeln gefror, als sie übers Wagendach schaute und mich stehen sah, im Schatten der Maisonettewohnungen.
    Es war, als würde meine Stimme nicht mehr richtig funktionieren, die Worte kamen ganz dünn und leise raus, als ich meine Mam fragte: »Was machst du denn da?«
    Sie hob die Hand. »Jetzt mal ganz ruhig«, sagte sie, »ganz ruhig!«
    »Was machst du denn da?«, wiederholte ich lauter, von Entsetzen gepackt. »Was machst du denn da?«
    Aber da öffnete sich die Fahrertür. Und er stieg lächelnd aus dem Wagen! »Hallo, Raymond!«, sagte er. »Ich hab nur mal eben deine Mam nach Hause gebracht.«
    Und da schrie ich los. Ich schrie! Ich schrie meine Mam an:

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