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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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alle dargestellt haben. Der wahre Wahnsinn, Morrissey, der lähmende, obszöne Wahnsinn lag in dem, was er mir hatte mitteilen wollen! Meine Mam! Und dieser Mutant! Meine Mam verheiratet mit ihm ! Das war verrückt! Das war der Wahnsinn; der schizoide, psychotische, gestörte, aberwitzige Wahn, der keinerlei Sinn mehr ergab. Das war die eigentliche Verrücktheit, Morrissey. Die Verrücktheit, vor der ich davonrannte, rannte, rannte, rannte.
    Wenn ich nämlich an jenem Abend wirklich verrückt gewesen wär, so wie sie es später alle behauptet haben, dann hätt ich doch versucht, den ganzen weiten Weg nach London zu rennen. Aber ich habe es nicht versucht! Ich rannte dorthin, wo ich auf geistige Normalität, auf geistige Gesundheit hoffte, Morrissey; ich rannte zu dem einen Menschen, dem einzigen Menschen auf der ganzen Welt, der das alles irgendwie in Ordnung bringen konnte!
    Die Pflegerin fragte mich, ob ich okay sei, ich sähe ja völlig durchgefroren aus, und warum ich denn in so einer bitterkalten Nacht keinen Mantel anhätte? Aber ich antwortete, mir sei kein bisschen kalt und ich wolle meine Oma besuchen. Als ich ihr den Namen meiner Oma nannte, wirkte die Pflegerin irgendwie nervös und bat mich, einen Moment zu warten. Dann verschwand sie im Büro und kurz darauf kam eine andere Pflegerin raus. Die teilte mir mit, meiner Oma gehe es nicht sehr gut. Sie erklärte mir, meine Oma habe einen kleinen Rückschlag erlitten. Und man warte auf den Arzt. Ich glaube, das war der Moment, als ich in Tränen ausbrach. Die Pflegerinnen dachten, ich weinte nur wegen meiner Oma, und deshalb sagten sie, wenn ich nicht allzu lange bliebe, dürfe ich zu ihr reingehen.
    Als mich die Pflegerin ins Zimmer führte, saß meine Oma zusammengesunken im Sessel. Ich sah, wie sie mich beobachtete. Aber sonst schien nichts mehr zu funktionieren. Ihr Mund stand offen und an einer Seite rann Speichel raus.
    »Schauen Sie nur, Vera!«, rief die Pflegerin munter. »Schauen Sie nur, wer gekommen ist! Ihr Enkel!«
    Aber meine Oma rührte sich nicht. Und die Pflegerin redete weiter, als sei meine Oma taub und doof. »Er kann nicht lange hier bleiben, Vera, weil wir ja auf den Doktor warten! Wir glauben nämlich, dass Sie ein winzig kleines Schlaganfällchen gehabt haben, Vera!«
    Jetzt beugte sich die Pflegerin zu meiner Oma runter und sagte: »Ach, arme Vera Madeira!« Sie wollte nach der Hand meiner Oma greifen, aber da rollte meiner Oma plötzlich dieses rote Ding vom Schoß. Die Pflegerin bemerkte es nicht. Aber ich fragte: »Was ist denn das? Was ist das?«
    Die Pflegerin hob es vom Boden auf.
    »Oh, schauen Sie nur, Vera!«, rief sie. »Das ist ja Ihre Clownsnase!«
    Und zu mir sagte sie: »Dabei hat sie sich doch so wunderbar amüsiert! Wir haben doch heute alle unsere Nasen anprobiert und für den ›Clownsnasentag‹ geprobt. Und alle haben sich so drauf gefreut! Wir hatten da diese wunderbare Idee, dass alle unsere Gäste am Clownsnasentag den Komiker ihrer Wahl spielen sollen. Da gibt’s dann Sahnetorte und Clownsmützen und Knallbonbons und Tröten! Heute Nachmittag haben wir zum ersten Mal geprobt. Stimmt’s, Vera? Und es war ja soo lustig! Wo man hinschaute, überall Arthur Askeys, Frankie Howerds und Tommy Coopers, Hylda Bakers und Beryl Reids. Und Charlie Chaplins? Es waren doch auch ein paar tolle Charlie Chaplins dabei!« Sie drehte sich zu meiner Oma um. »Stimmt’s, Vera?«, rief sie laut. »Waren nicht auch ein paar wundervolle Charlie Chaplins dabei?«
    Aber meine Oma starrte sie nur an und die Pflegerin nickte und fuhr fort: »Ich kann dir sagen, deine Oma war wirklich toll! Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob wir auch alle verstanden haben, welchen Komiker sie darstellen wollte. Deine Oma hat wohl irgendwann mal im Ausland gelebt?«
    Ich runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
    »Na ja«, sagte sie, »der Name klang jedenfalls ausländisch. Als wir deine Oma gefragt haben, welchen Komiker sie heute darstelle, hat sie diesen Namen genannt. Ich glaube, es war ein deutscher Name. Na ja, selbst die Deutschen werden wohl ein paar Komiker haben, oder?«
    Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Und dann hörte ich dieses röchelnde Geräusch.
    »Wie bitte, Vera?«, fragte die Pflegerin.
    Und meine Oma holte mühsam Luft und wiederholte: »Wit… Wit… Wit…«
    Die Pflegerin verstand nicht, was sie meinte, und sagte: »Ja, ja, der Doktor wird jeden Moment da sein, Vera«, und da meiner Oma der Speichel aus dem

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