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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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Mundwinkel rann, wollte ihn die Pflegerin abwischen. Aber meine Oma schob ihren Arm zur Seite und sagte: »Witt… Witt… Witt…gen … stein.«
    »Ja, genau!«, rief die Pflegerin. »So hieß der Komiker, den deine Oma dargestellt hat! Vitgen, genau … Vitgen noch was. Ich hab dir ja gesagt, dass es deutsch klang. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht, Vera. Sie haben uns wirklich alle zum Lachen gebracht, nicht wahr?«
    Die Pflegerin trat einen Schritt zurück und sah meine Oma an. »Ach«, sagte sie, »sie hat sich prächtig amüsiert!«
    Dann nickte sie meiner Oma zu und fragte: »Wollen wir sie wieder aufsetzen, Vera? Na gut.« Und dann hob sie das rote Plastikding vom Boden auf und steckte es meiner Oma auf die Nase.
    Und so hab ich meine Oma das letzte Mal gesehen. Kurz darauf kam eine andere Pflegerin rein und schickte mich weg, weil der Arzt jetzt da war. Und dieses Bild wurde ich sehr, sehr lange nicht mehr los. Immer wenn ich an meine Oma dachte, sah ich sie so vor mir: unfähig zu sprechen, mit einer roten Plastiknase im Gesicht, eine im Sessel zusammengesackte Gestalt, der es vor so viel Komik die Sprache verschlagen hatte – Wittgenstein, der Philosoph mit der Clownsnase!

    Ich weiß nicht, warum ich noch mal hingegangen bin. Ich wohnte ja nicht mehr dort. Twinky und Norman auch nicht mehr. Und meine Oma würde nie mehr zurückkommen. Ich weiß nicht, warum ich noch mal hingegangen bin. Aber wo hätte ich sonst hingehen sollen? Ich lief einfach ziellos durch die Gegend; ich lief durch Failsworth, wo ich früher mal gewohnt hatte. Ich wusste ja nicht, dass Wilson nach mir suchte. Ich lief einfach rum, schaute mir die Orte von früher an; meine alte Schule in der Binfield Road, wo ich Norman und Twinky kennen gelernt hatte; den Freizeitpark, wo ich früher mal mit meinen Freunden Fußball und Superman gespielt und im Sommer gezeltet hatte; unser altes Haus, das jetzt ganz anders aussah, seitdem es von der Stadt renoviert worden war; die Tür und das Gartentor hatten eine andere Farbe. Dann ging ich zum Haus meiner Oma und dachte, es würde zwar dunkel sein und leer stehen, aber doch immer noch so aussehen wie früher. Aber das Haus stand nicht leer und es war auch nicht dunkel. Drinnen brannte überall Licht und es sah ganz nach einer Party aus. Vor der Haustür befand sich ein neuer Glasvorbau. Und auf dem Dach prangte eine nagelneue Satellitenschüssel. Ob meine Mam das wohl wusste? Ob meine Mam wohl wusste, dass mein Drecksonkel das Haus meiner Oma verkauft hatte?
    Aber es ließ mich kalt. Meine Oma würde nie mehr zurückkommen. Mein Drecksonkel, seine eklige Frau und die grässlichen Gören konnten sich jetzt nach Herzenslust auf irgendwelchen Pazifikinseln austoben. Es ließ mich kalt. Jetzt ließ mich alles kalt.
    Aber, Morrissey, das, was dann später alle behaupteten, hab ich nicht getan. Ich weiß noch, dass ich plötzlich die Abkürzung nahm, an der Bäckerei vorbei, durchs Tor und runter, an den Schrebergärten vorbei. Aber das, was sie behauptet haben, Morrissey, war nicht der Grund. Es war das Eis! Das Eis! Deshalb konnte ich nicht zurück; wegen dem Eis! Ich sah den Frost auf dem Boden; und oben am sternklaren Himmel den großen, gelben Mond, der alles in taghelles Licht tauchte und meinen Schatten hinter mir in die Länge zog, als ich vom Weg abbog und über die Brücke ging und dann runter, an der Rückseite der Bungalows vorbei. Und natürlich wusste ich, wohin ich ging! Ich wusste ganz genau, wohin ich ging. Aber der Grund, Morrissey, der Grund, warum ich dorthin ging, der hatte nichts mit Verrücktheit und irgendwelchen Mutanten, Ohrenschützern, Muscheln und Analpsychotikern zu tun, nichts mit Eidhexen, schurkischen Onkeln, fiktiven Freunden und ihren amerikanischen Vätern oder sonst irgendwas, das in Wilsons Akte stand.
    Der einzige Grund, Morrissey, der einzige Grund, warum ich dort gelandet bin und warum ich auf einmal am Kanalufer stand, der einzige Grund war, dass sich mein Herz anfühlte, als sei es gebrochen. Und natürlich wär es nicht einfach dadurch wieder heil geworden, dass ich dort am gefrorenen Kanal stand, an der Stelle, wo ich irgendwann einmal verschwunden war! Das weiß ich ja! Das wusste ich auch schon damals, als ich dort stand; ich wusste ja, es würde sich nichts dadurch bessern, es würde mir nicht meine Freunde zurückbringen, es würde meine Oma nicht wieder in eine richtige Oma zurückverwandeln, es würde meine Mam nicht davon abhalten, diesen

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