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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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hörte, befand man, dass es auf keinen Fall schaden könne; vielleicht würde es sogar die langen Nachtstunden verkürzen, wenn man dem Cowboy erlaubte, ein paar Songs zu spielen. Und deshalb durfte er die Gitarre mit in die Zelle nehmen.«
    »Aber er hat nicht versucht, drauf zu spielen«, sagte Slim. »Anscheinend saß er nur zusammengekauert in der Ecke seiner Zelle und hielt die Gitarre umschlungen, als hielte er zärtlich seine Patsy im Arm, während er sich leise durch die einsamen Stunden sang, alle traurigen Songs, die er kannte.«
    Der wachhabende Beamte sagte, er könne sich nicht erinnern, dass es samstagabends in den Zellen jemals so still gewesen sei. Der melancholische Gesang des Cowboys schien alle Inhaftierten zu besänftigen; die Sauf- und Raufbolde, die Rowdys, die Wochenendschläger und Gelegenheitsarbeiter in den andern Zellen störten nicht wie sonst, sondern lauschten lammfromm den schwermütigen Songtexten und tränenreichen Melodien, die durch die Gitterstäbe von Zelle neunundzwanzig drangen.
    »Und niemand hat nach ihm geschaut«, sagte Cindy-Charlene. »Solange sie ihn singen hörten, dachten sie, alles sei in Ordnung. Aber sie ahnten nicht, dass der Cowboy nach ein oder zwei Stunden seine Gitarre nicht mehr im Arm wiegte, sondern langsam die Saiten abmachte, dabei aber die ganze Zeit weitersang, damit alle glaubten, er sitze immer noch in seiner Zellenecke.«
    »Doch in Wirklichkeit traf er seine Vorbereitungen,«, sagte Deak. »Er löste die E-Saite, die A-Saite, dann die D-Saite. Und knüpfte sie zusammen.«
    »Dabei hörte er keine Sekunde zu singen auf«, fuhr Slim fort. »Er sang die ganze Zeit, während er die Silbersaiten zusammendrehte und dann das eine Ende zu einer Schlinge knüpfte.«
    »Und das andere Ende …«, sagte Deak. »Er sang die ganze Zeit leise weiter … während er das andere Ende an der Lampe befestigte … während er einen Stuhl holte und ihn vorsichtig unter die Lampe stellte … während er auf diesen Stuhl stieg … sich die Schlinge um den Hals legte, immer noch singend … immer noch singend … In allen andern Zellen hörten sie den Cowboy singen. Bis …!«
    Deak schüttelte den Kopf. In seinen Augen standen Tränen. Da er nicht mehr weitersprechen konnte, fuhr Slim fort: »Bis der Gesang plötzlich abbrach.«
    Slim machte ein kummervolles Gesicht. Cindy-Charlene starrte auf ihre hochhackigen Stiefeln, und Deak begann zu weinen.
    »Die andern Gefangenen«, sagte Slim, »riefen: ›Hey, Kumpel, weitersingen, nicht aufhören, Kumpel!‹ Und als ihre Worte keine Wirkung zeigten, schlugen sie gegen die Gitterstäbe und riefen dem Sergeant zu, er solle doch mal mit dem Sänger reden und ihn bitten, noch ein bisschen weiterzusingen. Der Sergeant schimpfte, sie sollten das Maul halten, sie seien ja der letzte Abschaum und so was dürfe eigentlich gar nicht auf der Welt sein. Aber da er wusste, dass der traurige Gesang des Cowboys diesen Abschaum in den Zellen ruhig gehalten hatte, gab der Sergeant nach und ging zu Zelle neunundzwanzig, um den Cowboy zu bitten, doch noch ein bisschen weiterzusingen.«
    »Und so hat man ihn gefunden«, sagte Cindy-Charlene. »So hat ihn der Sergeant gefunden, aufgehängt an den Saiten seiner eigenen Gitarre.«
    Bei dieser Erinnerung schauerte Cindy-Charlene zusammen.
    »Der Sergeant konnte ihn retten«, sagte sie, »und hat ihn gerade noch rechtzeitig abgeschnitten.«
    Sowerby Slim senkte seinen großen, bärtigen Kopf und schüttelte ihn traurig. »Aber seine Stimme war nicht mehr zu retten. Die Saiten hatten seine Stimmbänder verletzt.«
    Deak nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
    Und ich saß da, auf dem Transportkoffer, völlig durcheinander und aufgewühlt und wusste nicht mehr, was ich denken oder sagen oder tun sollte. Denn was kannst du denken oder tun, wenn du gerade lauter Dinge erfahren hast, die du noch nicht wusstest; über deinen eigenen Vater! Und nicht nur das; du hast sogar erfahren, dass du ihn kennst! Dass du ihn damals Tag für Tag in Swintonfield gesehen hast, dass ihr an Sommernachmittagen zusammengesessen seid und gezuckerten Tee mit wenig Milch getrunken und gemeinsam dem Rauschen des Windes in den Zweigen des großen Kastanienbaums gelauscht habt. Und nie, kein einziges Mal, hat dich auch nur die leiseste Ahnung beschlichen, dass eben dieser Gärtner, der Mann, der seine Stimme verloren hatte, der Mann, der dir seine Gitarre zum Geschenk machte – dass dieser Mann dein eigener

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