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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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»Charlene …! Cindy-Charlene, warte!«
    Und noch während ich auf sie zuging, zog ich den Reißverschluss meiner Gitarrenhülle auf. »Schau mal«, sagte ich.
    Cindy-Charlene runzelte die Stirn. »Was?«
    Und da schlug ich die Hülle zurück, und der Gitarrenhals mit dem fehlenden Elfenbeinwirbel kam zum Vorschein. Cindy-Charlene riss die Augen auf, hob unwillkürlich die Hand zum Mund und flüsterte: »O mein Gott!« Dann sah sie mich an. »O mein Gott!«, wiederholte sie, die Augen voller Tränen. Und mit erstickter Stimme sagte sie: »Ich hab ihn geliebt!«
    Ich nickte.
    »Ich weiß!«, sagte ich. »Ich weiß. Und ich wünschte, er hätte dich geliebt, statt … na ja, du weißt schon.«
    Cindy-Charlenes Gesicht verzog sich zum Weinen. Aber dann riss sie sich zusammen und sagte: »Komm! Komm mit zurück in den Klub! Zeig sie ihnen, zeig Deak und Slim die Gi-«
    Aber ich schüttelte den Kopf und zog den Reißverschluss der Hülle wieder zu. »Nein, schon gut«, erwiderte ich. »Ich wollte nur, dass du es weißt. Aber jetzt muss ich gehen.«
    Sie packte mich am Arm. »Wo ist er jetzt?«, fragte sie. »Was macht er? Geht’s ihm gut?«
    Ich zuckte nur die Achseln. »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Es ist schon Jahre her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hab. Und damals wusste ich gar nicht, dass er mein Dad ist.«
    Cindy-Charlene runzelte die Stirn.
    Und achselzuckend fügte ich hinzu. »Aber er war nicht mehr der Kexborough Cowboy.«
    Jetzt weinte Cindy-Charlene. In diesem Moment rief Deak ihr vom Bühneneingang zu, es sei Zeit für den Soundcheck. Cindy-Charlene nickte. Dann umarmte sie mich. Und als sie zurücktrat, nahm sie meinen Kopf in beide Hände und starrte mich an. »Er war ein Star, dein Dad«, sagte sie. »Er war ein richtiger Star.«
    Sie zwinkerte die Tränen weg, bis Deak rief, sie solle sich beeilen. Und Cindy-Charlene, die meinen Vater geliebt hatte, drehte sich um und stöckelte zum Bühneneingang des Vereinigten Metzger- und Architektenklubs zurück. Das Letzte, was ich von ihr sah, war ihre Silhouette im Lichtschein, der aus dem Bühneneingang fiel. Sie warf mir eine Kusshand zu.
    Und stellvertretend für meinen Dad warf ich Charlene eine Kusshand zurück.

    Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks

Der Big Bite Service,
A1 (M),
Nähe Doncaster

    Lieber Morrissey,

    es ist schön, hier zu sitzen, mit Blick auf die Autobahn; man schaut raus und sieht im Dunkeln nur lauter Scheinwerfer und Schlusslichter vorbeiflitzen. Hier ist es ganz still. Wahrscheinlich, weil es so spät ist. Und die Leute da unten in ihren Autos und Lastwagen, die wollen vermutlich alle nach Hause.
    Aber hier drin ist es ganz nett. Die Lichter sind gedimmt und es ist ruhig; wie nachts im Krankenhaus, wo man nur weit entfernte Geräusche hört, die man nicht so recht einordnen kann.
    Ich hab mir ein Taxi genommen. Von dem Geld, das mir Cindy-Charlene gegeben hatte, bin ich mit dem Taxi zurück zur Autobahn gefahren. Ich weiß, ich hätte eigentlich gleich weitertrampen sollen. Aber dann bin ich hier reingegangen, um erst mal was zu essen.
    Und es tut mir Leid, Morrissey; es tut mir wirklich Leid. Aber plötzlich kam es mir nicht mehr so wichtig vor. Wenn auf der Speisekarte ein annehmbares vegetarisches Gericht gestanden hätte, dann hätte ich’s bestellt. Aber als ich reinkam, war mir ein bisschen flau zumute; so als bräuchte ich was, das mich von innen her aufwärmt und füllt, damit ich nicht mehr so leer bin.
    Es tut mir Leid, Morrissey. Ich weiß, ich könnte es einfach für mich behalten, dann würdest du’s gar nicht erfahren. Aber das bring ich nicht fertig. Ich kann nicht an dich schreiben, Morrissey, wenn ich dir irgendwas verheimliche und dir nicht die ganze Wahrheit sage.
    Und die Wahrheit ist, ich hab es getan!
    Ich hab mir ein Brathähnchen bestellt. Und es aufgegessen!
    Ich will mich nicht rechtfertigen, Morrissey, aber immerhin hab ich mich erst bei der Frau an der Theke erkundigt, und die hat mir versichert, dass sie ausschließlich frei laufende Hühner verwenden, die mit Körnern gefüttert wurden. Also hat das Brathähnchen zumindest ein relativ gesundes und höchstwahrscheinlich auch ein recht glückliches Leben hinter sich gehabt. Jetzt bist du vermutlich zutiefst verletzt und entsetzt, Morrissey. Normalerweise wär ich ja selber entsetzt gewesen bei dem Gedanken, dass ich mein vegetarisches Gelübde so leicht breche. Aber nach dem, was passiert war; nach dem, was ich da über meinen Dad

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