Der Fliegenfaenger
er mir vorkam; so real wie der silberfarbene Mercedes, der in der Seitenstraße hinter der Ecke stand, der silberfarbene Mercedes von gestern Nacht.
Und da dachte ich, alles sei in Ordnung! Alles sei Wirklichkeit!
Wirkliche wirkliche Wirklichkeit! Deshalb wollte ich schnell auf den Wagen zulaufen, um endlich aus der Sonne zu kommen.
Aber ich schaffte es nicht. Denn plötzlich wurde ich ohnmächtig!
Als ich sie sah, dort auf dem Rücksitz des Wagens: das Mädchen mit den Kastanienaugen.
Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks
22. Juni 1991
Swallowbrook,
Heaton Wold,
N. Lincolnshire
Liebe Mam,
ich weiß, dass dich dieser Brief überraschen wird, aber du solltest dir keine Sorgen um mich machen, ehrlich! Mir geht es nämlich gut, Mam.
Ich weiß, dass inzwischen Onkel Jason mit dir gesprochen haben wird und du vermutlich ganz durcheinander bist. Aber, Mam, hör nicht auf ihn; denn es ist alles in Ordnung. Mam, wirklich. Mam, es ist alles in Ordnung.
Ich weiß, es ist auf andere Art in Ordnung als was du unter »in Ordnung« verstehst und was du erwartet hattest. Und ich weiß auch, wie sehr du drauf gezählt hast, dass ich einen Job kriege, mich anpasse und einfach ein ganz normaler Mensch werde, der dir nicht mehr so viele Sorgen macht. Ich versteh dich, Mam. Deshalb bin ich ja nach Grimsby gegangen, weil ich dachte, du hast Recht. Ich dachte ja sogar, dass Onkel Jason Recht hat! Ich dachte, wenn ich mich wirklich anstrengen würde, könnte ich zu dem ganz normalen, durchschnittlichen Jungen werden, den du dir immer gewünscht hast. Und, Mam, das hab ich mir sogar selber gewünscht! Deshalb hab ich es versucht. Ich hab es wirklich versucht. Aber ich glaube, jetzt ist mir eines klar geworden, Mam: Wenn man nicht von Natur aus normal ist, hat es keinen Zweck, sich ändern zu wollen und jemand zu werden, der sich anpasst und einfügt. Ich denke, es ist ein bisschen so, als wär man homosexuell; man ist es eben. Und mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.
Das heißt jetzt nicht, dass ich homosexuell bin, Mam! Ich weiß, das hast du immer irgendwie vermutet. Aber ich bin es nicht. Klar, ich hab Twinky und Norman geliebt und werd sie immer lieben. Und eigentlich hätt es mir gar nichts ausgemacht, homosexuell zu sein. Aber ich bin’s nun mal nicht, Mam. Ich bin nur nicht normal. Und hier, wo anscheinend niemand normal ist, kommt es mir eigentlich ganz normal vor, nicht normal zu sein.
Jo hat gesagt: »Wenn ich mich hier so umschaue, wundert’s mich nicht, dass du gedacht hast, du seist in einer Nervenheilanstalt gelandet.«
Jo ist sehr nett, Mam. Wir gehen nicht miteinander. Aber wir sind Freunde. Und obwohl sie dort nicht mehr wohnt, Mam, kommt sie ursprünglich aus Failsworth! Ich hab sie eigentlich gar nicht gekannt, bevor ich hierher kam, nur mal mit ihr geredet, an der Bushaltestelle beim Altglascontainer an der Hauptstraße. Und als ich versuchte, nach Grimsby zu kommen, bin ich ihr in einer Raststätte begegnet. Leider gab es damals einen etwas unerfreulichen Zwischenfall und deshalb kamen wir nicht ins Gespräch. Aber Jo sagt, wenn sie gewusst hätte, dass ich in diese Gegend von England wollte, dann hätt sie mich mitgenommen. Sie ist erst siebzehn, aber sie hat schon den Führerschein und ein eigenes Auto. Sie sagt: »Es ist eine echte Klapperkiste!« Aber man merkt, dass sie total stolz drauf ist. Manchmal steht sie ganz früh auf und fährt zur Küste, um über den Strand zu laufen, wenn gerade die Sonne aufgeht. Sie sagt, das gefällt ihr, so früh am Morgen draußen zu sein, da schreibe sie ihre besten Sachen. Sie hat mich ein paar von ihren Gedichten lesen lassen. Ich find sie ziemlich gut. Eigentlich find ich sie sogar toll, manche davon. Aber vielleicht bin ich da ein bisschen voreingenommen.
Mam, ich weiß, dass du mir wahrscheinlich nicht glauben wirst, aber mir geht es wirklich gut! Und manchmal geht es mir sogar so gut, dass ich Angst hab, es sei vielleicht alles gar nicht real und ich könne jeden Moment aufwachen.
Ich weiß , dass ich nicht auf einer Baustelle bin, Mam, und vermutlich hast du dir alles Mögliche von Onkel Jason und Tante Fay anhören müssen, die ja schon immer auf dir rumgehackt und dich bevormundet und bemitleidet haben, weil du einen Sohn hast, der so geworden ist wie ich. Das tut mir Leid, Mam. Ich wollte nie so werden. Und ich weiß ja, wie sehr du dir gewünscht hast, dass ich ein ganz normaler, durchschnittlicher, unauffälliger Junge wär, der lauter normale Dinge
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