Der Fliegenfaenger
deiner Ansicht nach die richtige Lektüre für einen kleinen Jungen von höchstens …«, er schlug das Heft zu und sah mich an, »… acht Jahren?«
Als ich erwiderte, ich sei schon fast neun, sagte er: »Oho! Fast neun. Und mit fast neun Jahren ist das also in Ordnung, Raymond James Marks? Dass man sich so einen Schund anschaut und solche Bilder mit in die Schule bringt?«
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte! Es war doch nur Spiderman gegen die Vulkanhexen . Und die Vulkanhexen hatten wahnsinnig lange Beine und große spitz vorstehende Brüste, und ich und Geoffrey Weatherby fanden sie immer wahnsinnig sexy. Aber eigentlich wussten wir gar nicht, wovon wir sprachen. Wir waren erst acht und hatten keine Ahnung, was »sexy« heißt. Manchmal, wenn ich lesend im Bett lag und mir die Vulkanhexen anschaute, spürte ich so ein komisches Kribbeln, irgendwie angenehm. Aber manchmal dachte ich auch nur: Voll bescheuert, diese Vulkanhexen, immer in nichts als Unterhose und BH rumzurennen! So hatten die bestimmt keine Chance, Spiderman zu besiegen und den Planeten Erde zu übernehmen! Die hätten bestimmt nie einen arktischen Winter überlebt!
»Tja, Raymond Marks«, sagte der Neue Schulleiter. »Hast du mir nichts zu sagen?«
Und da dachte ich, der Neue Schulleiter hielte es vielleicht so wie Mr. Kerney. Mr. Kerney hatte uns nämlich immer die Chance gegeben, unser Verhalten zu erklären, selbst wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Und manchmal hatte Mr. Kerney dann sogar seine Meinung geändert und gesagt, wir seien im Recht und er im Unrecht und er habe wieder mal was von uns gelernt.
Und deshalb erklärte ich dem Neuen Schulleiter: »Sir, eigentlich glaube ich nicht, dass ich zu jung dafür bin. Wenn ich zu jung wär, um Spiderman gegen die Vulkanhexen zu lesen, dann hätte mir meine Oma das Heft doch nicht gekauft!«
Der Neue Schulleiter trat einen Schritt zurück und musterte mich von Kopf bis Fuß. Dann beugte er sich langsam vor, bis sein Gesicht ganz dicht vor meinem war, und sagte mit hervorquellenden Augen: »Ich hab was gegen altkluge Bürschchen, Raymond Marks. Bist du ein altkluges Bürschchen oder einfach nur furchtbar frech?«
Ich wusste nicht mal, was altklug bedeutete. Und frech war ich nun wirklich nicht gewesen. Also zuckte ich die Achseln und schwieg. Und der Neue Schulleiter sagte: »Jetzt hör mir mal gut zu, Raymond James Marks mit deinen fast neun Jahren! An dieser Schule gab es viel zu lange viel zu viele altkluge Kinder. Das wird sich jetzt ändern. Weniger alte Köpfe auf jungen Schultern, weniger Neun-, Zehn- und Elfjährige, die sich benehmen, als wüssten sie besser Bescheid als ihre Lehrer. Ja, sogar als ihr Schulleiter!«
Und dann hielt er mein Spiderman -Heft hoch und sagte: »In meiner Schule, Raymond Marks, benehmen sich kleine Jungs wie kleine Jungs. Und es ist mir schnurzegal, welche Lektüre sich nach Ansicht deiner Großmutter für dich eignet oder nicht. In meiner Schule hat solcher Schund nichts zu suchen!«
Und mit diesen Worten riss er Spiderman und die Vulkanhexen mittendurch! Danach schickte er mich in meine Klasse. Und im Weggehen hörte ich ihn noch sagen: »Raymond James Marks! Ich zweifle keine Sekunde, dass mir dieser Name noch öfter zu Ohren kommen wird!«
Es war nicht mehr schön in unserer Schule, seitdem der Neue Schulleiter da war.
Es gab keine Sonderversammlungen mehr und der Neue Schulleiter sprach nie über chinesische Imbissbuden oder die leckere sämige Currysauce oder darüber, wie schön es ist, anders zu sein. Twinky McDevitt wurde zum Psychotherapeuten geschickt und auf dem Schulhof gab es keine Pirouetten und Konzertdarbietungen mehr. Krippenspiele waren ab jetzt nur noch Krippenspiele. Und so machte der Neue Schulleiter aus unserer Schule eine ganz normale Schule. Und allmählich vergaß jeder die Schönheit all dessen, was anders war.
Mrs. Bradwick und der Schulvorstand waren darüber natürlich hoch zufrieden. Und der Neue Schulleiter auch. Denn die Schulbehörde hatte fest damit gerechnet, dass es Jahre dauern würde, bis an unserer Schule wieder geordnete Verhältnisse einkehren würden. Doch nun hatte der Neue Schulleiter schon nach achtzehn Monaten wahre Wunder bewirkt!
Vor lauter Begeisterung über die sensationelle Verwandlung unserer Schule dachte Mrs. Bradwick sogar laut darüber nach, dass die Bemühungen des Neuen Schulleiters auch auf nationaler Ebene anerkannt und mit einer Einladung in den Palast und mit dem Orden des
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