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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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starrte in die Ferne, sah, wie sich sein Ehrenorden in Luft auflöste, und zupfte zerstreut an seinem linken Ohrläppchen, was er immer tat, wenn etwas seiner Meinung nach Schlimmes an unserer Schule passiert war. Und nach allem, was er soeben vernommen hatte, war »schlimm« gar kein Ausdruck für das, was hier geschehen war, an seiner Schule, und offensichtlich sogar gleich mehrfach, unter seiner Leitung, direkt vor seiner Nase! Den Neuen Schulleiter überlief es kalt. Er schauderte. Und vor seinem geistigen Auge sah er in der Failsworth Fanfare die Schlagzeile: »Neuer Schmuddelskandal in Failsworth – zweiter Schulleiter entlassen!«
    Der Doktor fragte, ob er jetzt das Antihistamin spritzen könne.
    Aber dem Neuen Schulleiter hatte es die Sprache verschlagen. Fünfzehn! Fünfzehn hatte der kleine Goldberg gesagt; ein Sumpf, ein Krebsgeschwür, das vor sich hin geschwärt, eine Seuche, die sich rasend ausgebreitet hatte und Gott weiß wie lange unbemerkt geblieben war – an seiner Schule. Jetzt war der Neue Schulleiter nicht mehr glücklich und zufrieden. Jetzt überlegte der Neue Schulleiter hektisch, wie groß seine Chancen waren, einen Skandal zu überstehen, bei dem es um wiederholte Massenmasturbation im Freien ging.
    Während er verzweifelt nach einer Lösung suchte, stürzte er sich flüchtig auf den Gedanken des Schulverweises. Aber dann wurde ihm klar, dass der schlagartige Ausschluss von fünfzehn frühreifen Perversen die Aufmerksamkeit nicht nur der Failsworth Fanfare , sondern sämtlicher britischer Medien erregen würde. Der Neue Schulleiter versuchte sich zu konzentrieren. Aber das war vor allem deshalb schwierig, weil der kleine Goldberg in einem fort greinte und jammerte und dauernd wiederholte, dass er nicht damit angefangen habe, dass er zwar beim Fliegenfangen mitgemacht, aber nicht damit angefangen habe.
    Der Neue Schulleiter drehte sich um und wollte Albert anschnauzen, er solle endlich den Mund halten. Aber plötzlich wurde ihm klar, was Albert da die ganze Zeit vor sich hin stammelte, und er erspähte zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer.
    Er konnte wieder klarer denken und erkannte, dass die Situation vielleicht doch nicht so hoffnungslos war, wie es anfangs geschienen hatte. Fünfzehn Perverse? Einfach lächerlich. Auf einmal hätte der Neue Schulleiter fast über seine alberne Panik gelacht. Er fühlte sich erleichtert. Ein Massenrausschmiss war gar nicht nötig. Fünfzehn vorpubertäre Perverse im gleichen Schuljahr? Dass das unmöglich war, sagte einem ja schon die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Durchaus möglich, ja sogar äußerst nahe liegend war etwas ganz anderes: dass ein paar naive Jungs zu dieser ganzen Sache angestiftet worden waren.
    Er habe nicht damit angefangen! Das hatte der kleine Goldberg gesagt. Aber irgendjemand musste doch damit angefangen haben. Ein Junge, ein einziger fauler Apfel, mehr müsste nicht nötig gewesen sein; ein einziges verkommenes Subjekt, ein verdorbenes, frühreifes kleines Scheusal, das seine Klassenkameraden in diesen widerlichen Sündenpfuhl der Sexfolter mit Insekten hineingelockt hatte.
    Der Neue Schulleiter zupfte nicht mehr an seinem Ohrläppchen.
    Und als Albert Goldberg aufblickte, sah er den Schulleiter lächeln.
    »Pass mal auf, Albert«, sagte er. »Der Arzt spritzt dir jetzt das Medikament. Und während er das tut, denkst du mal scharf nach, Albert. Und dann sagst du mir, wer euch dazu gezwungen hat, unten am Kanal solche Dinge zu tun.«
    Albert weinte nicht mal, als der Arzt ihn in den Arm piekste; denn er konnte sein Glück kaum fassen. Er bekam nicht nur die Injektion, die seine Männlichkeit rettete, sondern er hörte auch am Tonfall des Schulleiters, dass ihm hier eine Chance geboten wurde, sich noch einmal aus der Schlinge zu ziehen und nur als Opfer, nicht als Täter dazustehen.
    »Sag’s mir, Albert«, schmeichelte der Schulleiter. »Ich weiß, dir wäre so etwas nie eingefallen, Albert, nicht wahr? Du sagst ja völlig zu Recht, dass es nicht deine Idee war, stimmt’s? Du hast doch nicht damit angefangen, oder?«
    Albert Goldberg schüttelte den Kopf.
    »Also, Albert, wer war’s?«, fragte der Schulleiter sanft. »Wer hat damit angefangen, Albert?«
    Albert schwieg einen Moment und dachte daran, wie ich ihn vor dem Ertrinken gerettet hatte. Aber dann dachte er auch daran, wie tief er in der Scheiße steckte und dass er seiner Mam und seinem Dad vor die Augen treten musste und dass die Scheiße nicht mal halb so tief sein

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