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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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stand der Schulleiter auf, räusperte sich und teilte meiner Mam mit, dass ich mit sofortiger Wirkung vom Unterricht suspendiert sei. Und vor lauter Verwirrung und Ratlosigkeit runzelte meine Mam die Stirn noch mehr, als ihr der Neue Schulleiter riet, unbedingt professionelle Hilfe zu suchen. Mrs. Bradwick stimmte dem Schulleiter zu und sagte, mit der richtigen Therapie könne man das Problem vielleicht schon in jungen Jahren in den Griff kriegen und auf diese Weise verhindern, dass es später zu noch schlimmeren Konsequenzen komme.
    Und da fragte meine Mam, die immer besorgter wurde, aber auch immer weniger begriff, den Schulleiter: »Was hat er denn ausgefressen?«
    Und der Neue Schulleiter nahm ein Blatt Papier vom Schreibbtisch und sagte zu meiner Mam: »In Erwartung dieser Frage, Mrs. Marks, habe ich hier einen kurzen Bericht vorbereitet, den Sie sich bitte durchlesen wollen. Sie werden mir dann bestimmt dankbar sein, dass ich weder Ihr Feingefühl noch das meine oder das der Frau Vorsitzenden dadurch verletze, dass ich über die abscheulichen Vorgänge spreche, die sich heute abgespielt haben.«
    Und der Scheußliche Schulleiter saß hinter seinem Schreibtisch und sah zu, wie meine Mam mit gesenktem Kopf den kurzen Bericht überflog, demzufolge ihr eigener Sohn seinen tückischen Einfluss auf unerfahrene und weitgehend harmlose Jungen missbraucht hatte, die sich törichterweise (aber letztlich aus Naivität) in ein Netz sexueller Verfehlungen hatten locken lassen – einschließlich Exhibitionismus, Gruppenmasturbation, brutalem Sadismus und Verlassen des Schulgeländes während der Mittagspause.
    Und meine Mam schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte wie in Trance: »Das glaube ich nicht, das glaube ich einfach nicht, ich … ich kann es einfach nicht … ich … Das kann … das kann doch nicht wahr sein!«
    »Tut mir Leid, Mrs. Marks«, unterbrach sie der Direktor, »aber ich verbreite keine Lügen. Es handelt sich um vierzehn Jungen, Mrs. Marks, vierzehn, die auf die eine oder andere Weise mit in diese … schmutzigen Vorgänge hineingezogen wurden. Vierzehn! Und jeder einzelne von ihnen kann bezeugen, dass diese Schweinereien, die unten am Kanal passiert sind, dem Hirn eines einzigen Jungen entsprangen: dem von Raymond James Marks! Ihrem Sohn!«
    Der Schulleiter starrte meine Mam feindselig an. Und meine Mam starrte auf den Boden vor dem Schreibtisch und schüttelte langsam den Kopf.
    »Da er aber«, fuhr der Schulleiter fort, »wenigstens zugibt, der Rädelsführer zu sein, habe ich die Frau Vorsitzende und die anderen Mitglieder des Schulvorstands dazu bewegt, in diesem Fall Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Es wird Sie nicht überraschen, Mrs. Marks, dass ein so schweres Vergehen, eine so grobe Ungehörigkeit normalerweise einen Schulverweis nach sich ziehen würde. Doch angesichts seines Geständnisses und der Probleme, die Sie als allein erziehende Mutter ohnehin schon haben, wurde entschieden, dass Raymond nicht von der Schule gewiesen, sondern nur vom Unterricht suspendiert werden soll.«
    Meine Mam, deren Kopf sich wie Watte anfühlte, murmelte bloß »danke«.
    »Effektiv jedoch«, erklärte der Direktor, »bedeutet dies, da es ja nur noch zwei Wochen bis zum Ende des Schuljahrs sind, dass wir Raymond James Marks an dieser Schule nicht mehr sehen werden. Hoffen wir, dass sein skandalöses, krankhaftes Verhalten noch korrigiert werden kann, bevor er auf die Gesamtschule kommt.«
    Meine Mam murmelte wieder etwas vor sich hin, aber jetzt erhob sich der Schulleiter hinter seinem Schreibtisch und sagte: »Er wartet im Büro meines Stellvertreters, Mrs. Marks. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn gleich abholen könnten und unverzüglich das Schulgelände mit ihm verlassen würden.«
    Und meine Mam holte mich im Büro des stellvertretenden Schulleiters ab, wo ich die ganze Zeit schluchzend auf sie gewartet hatte. Jetzt stand sie da, immer noch in ihrer Kassiererinnenuniform. Sie stand in der Tür und sah mich an, als sei ich etwas Fremdes, Bedrohliches. Und ich konnte meiner Mam nicht in die Augen sehen.
    »Ist das wahr?«, fragte sie. »Ist das wahr, was man mir gerade erzählt hat?«
    Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, weil es ja teilweise stimmte, aber eben nicht so, wie der Scheußliche Schulleiter es dargestellt hatte. In seiner Schilderung hatte es sich wie etwas Böses, Schmutziges, Ekelerregendes angehört. Ich hätte meiner Mam so gern erklärt, dass alles in Ordnung war

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