Der Fliegenfaenger
gewesen sein, die er im Kopf hatte. Aber ich wusste – und der Stationsvorsteher wusste es wahrscheinlich auch -, dass all diese wunderbaren Bücher immer nur in seinem Kopf existieren würden. Und als ich die Straße entlangging, auf der Suche nach einem Bus, der mich erst mal nach Huddersfield bringen würde, fragte ich mich, ob es so vielleicht auch meinem Dad ergangen war, ob mein Dad vielleicht ein bisschen Ähnlichkeit mit diesem Stationsvorsteher gehabt hatte.
Ich glaube nicht, dass mein Dad jemals Bücher im Kopf mit sich rumtrug. Nein, sein Kopf war voller Melodien. Jedenfalls hat mir das meine Mam erzählt. Sie hat gesagt, das Langhalsbanjo habe ihr den Rest gegeben. Davor war es das chromatische Akkordeon gewesen! Immer wenn sie mir von meinem Dad erzählte, sagte meine Mam, das Langhalsbanjo mit dem Rosenholzbund und den Perlmuttintarsien habe ihr den Rest gegeben.
Offenbar brachte mein Vater ständig irgendwelche neuen Musikinstrumente mit nach Hause, auf denen er dann nicht spielen konnte. Anfangs habe sie das gar nicht gestört, sagte meine Mam.
»Genau aus diesem Grund hatte ich mich ja in ihn verliebt«, sagte sie. »Weil sein Herz voller Musik war!« Doch auch wenn mein Vater noch so viel Musik im Herzen trug, auch wenn er noch so gute Instrumente kaufte und noch so fleißig übte – er kriegte nie eine Melodie zustande.
»Er hat uns fast an den Bettelstab gebracht«, sagte meine Mam. »Du lagst ja damals noch im Kinderwagen, und mit dem Teilzeitjob im Kwiky hab ich kaum was verdient. Es kamen Gasrechnungen und Stromrechnungen, wir mussten Raten abstottern und Miete bezahlen. Aber das änderte nichts. Wir erstickten fast in Schulden, aber das war deinem Vater egal. Ich mache ihm ja keinen Vorwurf. Es war eher wie eine Krankheit. Johnny konnte einfach nicht anders. Kaum hatten wir mal ein bisschen Geld zusammengekratzt, zog er mit den allerbesten Absichten los und sagte, er ginge jetzt die Gas- oder Stromrechnungen bezahlen. »Und ich«, sagte meine Mam, »ich hab deinem Vater jedes Mal geglaubt, weil er selber so fest dran glaubte! Aber er bezahlte die Rechnungen nie. Ein paar Stunden später kam er mit einer Bassgeige, einem Saxophon oder einer Flöte nach Hause und hatte wieder diesen träumerischen Ausdruck in den Augen.«
Und so kriegten meine Mam und mein Dad Streit. Anfangs, sagte meine Mam, habe sie ihm immer aufs Neue verziehen, wenn er wieder das ganze Geld für eine Hammondorgel, ein Xylophon, eine Trompete oder eine Bassposaune ausgegeben hatte.
»Weißt du, Raymond, es war so entwaffnend, wenn sich dein Dad über was freute!«, erklärte mir meine Mam. »Wenn er mit einem neuen Instrument zur Tür reinkam, leuchtete er so vor Freude, dass es einem den Atem verschlug! Und im Handumdrehen hatte er dir eingeredet, er habe da einen wahren Schatz mit nach Hause gebracht. Und weil ich ja wusste, dass er so viele Melodien im Herzen trug, machte ich immer wieder den gleichen Fehler und glaubte ihm, dass er dieses neue Instrument bestimmt erlernen würde! Um das Geld wär es mir ja nicht gegangen, wenn er irgendeinem Instrument wenigstens mal einen Hauch all dieser Melodien entlockt hätte!«
Aber das sollte meinem Dad nie gelingen. So leidenschaftlich er sich auch bemühte – all seine Anstrengungen, irgendeinem Instrument Melodien und Harmonien zu entlocken, endeten in einem quälend kakophonischen Fiasko.
Und als meine Mam eines Tages aus dem Kwik Save nach Hause kam, stand er mit der Rickenbacker-Gitarre mitten im Wohnzimmer – für vierhundertvierunddreißig Pfund ein richtiges Schnäppchen, wie er später erklärte. Er hatte die Gitarre umgehängt und tat so, als würde er spielen. Zu einer Eric-Clapton-LP flitzten seine Finger das Griffbrett rauf und runter, in wilder, planloser, leidenschaftlich frustrierter Ekstase. Und meine Mam erzählte, meinem Vater seien die Tränen übers Gesicht gelaufen. Sie sagte zu ihm: »Das muss endlich aufhören, Johnny; das ist Besessenheit, eine Sucht – du bringst uns noch an den Bettelstab!«
Und mein Vater gab die Gitarrre auf. Doch als er sie zurückbrachte, entdeckte er im Laden ein chromatisches Akkordeon. Er erklärte meiner Mam, er habe die Gitarre in Zahlung gegeben und dabei ein fantastisches Geschäft gemacht.
Und in diesem Augenblick sah meine Mam die Löcher im Teppich und die blätternde Farbe an den Fensterrahmen; und mit jedem neuen Instrument, das mein Dad mit nach Hause brachte, blätterte noch mehr Farbe ab, wurden die
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