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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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und dass nichts davon zutraf. Aber der Schreckliche Schulleiter hatte sich der Wahrheit schon bemächtigt und sie zu einem bösen, schmutzigen, ekelhaften Vorgang verzerrt. Und obwohl ich die Wahrheit kannte, hatte er sogar mir das Gefühl vermittelt, wirklich schmutzig, böse und ekelhaft zu sein. Und ich war erst elf Jahre alt, noch viel zu klein, um zu wissen, wie schwer es ist, die Wahrheit zu retten, wenn jemand sie knebelt und verzerrt und in etwas verwandelt, das einen vor Scham rot werden lässt. Also sagte ich nichts. Und irgendwann sah meine Mam einfach nur zu Boden und sagte: »Komm! Ich soll dich wegbringen.«
    Und der neue Schulleiter und Mrs. Bradwick standen am Fenster und schauten uns nach, als wir schweigend über den leeren Schulhof gingen. Und sie warfen sich einen Blick zu, als sie mich, meine Mam und sämtliche Probleme durchs Schultor entschwinden sahen.
    Doch für uns ging es draußen erst los mit den Problemen. Vor dem Schultor hatten sich nämlich Mrs. Duckworth, Mrs. Goldberg, Mrs. Cowley und die Mütter all jener unschuldigen Kindlein postiert, die ich angestiftet und verführt und verdorben haben sollte.
    Die Mütter schrien und beschimpften meine Mam und sagten, wenn ich je wieder in die Nähe ihrer Kinder käme, würden sie mich verprügeln! Aber meine Mam war wie in Trance. Sie starrte vor sich hin und lief wortlos weiter.
    Meine Mam sprach erst wieder, als wir die zeternden Mütter hinter uns gelassen hatten. Sie sah mich jedoch nicht an, sondern starrte immer noch geradeaus, als sie ihre Frage wiederholte: »Ist das wahr?«
    Dann blieb sie stehen, schaute mich an und sagte: »Ich will es jetzt aus deinem Mund hören, Raymond. Ist das wahr?«
    Ich hatte meine Mam noch nie belogen. Und ich wollte es auch jetzt nicht tun. Andererseits wollte ich nicht, dass meine Mam mich für schmutzig und abstoßend hielt, aber jetzt starrte sie mich an, als kenne sie mich nicht mehr.
    Ich sagte zu meiner Mam: »Es ist wahr, aber es ist auch nicht wahr!«
    Da schrie sie mich an: »Untersteh dich! Komm mir jetzt nicht mit solchen Wortklaubereien! Du sprichst hier nicht mit deiner Großmutter!« Und sie zeigte auf mich und sagte: »Es ist eine simple Frage und du gibst mir jetzt eine simple Antwort! IST DAS WAHR?«
    »Ich hab doch nur gespielt«, sagte ich.
    Aber meine Mam verstand nicht, was ich meinte, und schrie mich wieder an: »O ja, ich weiß! An dir rumgespielt hast du, in aller Öffentlichkeit! Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre was war da noch mit diesen verdammten Fliegen?«
    »Es war nur ein Spiel!«, schrie ich zurück. »Es war doch nur ein Spiel!«
    Und meine Mam schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Dann sah sie mich seufzend an und sagte: »Ein Spiel? Ein Spiel!« Und jetzt betrachtete sie mich, als sähe sie mich zum allerersten Mal. »Du fliegst von der Schule und willst mir erzählen, dass alles nur ein Spiel war?«
    Wieder schüttelte meine Mam den Kopf. Und dann sagte sie: »Komm mit!« und lief weiter und ich stand nur da und schaute ihr nach. Und ich wünschte mir so sehr, sie würde sich umdrehen und mich ansehen und sagen, alles sei gut, aber ich solle mich jetzt beeilen, damit wir rechtzeitig zu Blockbusters zu Hause wären, und dann würden wir vor dem Fernseher auf dem Sofa sitzen, ich und meine Mam, und Toast essen und Milchkaffee trinken und die richtigen Antworten rufen, während der Blöde Bob und die Bescheuerten Blockbusters blöd und bescheuert waren und immer genau das taten, was man von ihnen erwartete, und sich beruhigend normal benahmen; ein Wort mit sechs Buchstaben für »konventionell« und »gewöhnlich«, das mit N beginnt. Ganz genau das wollte ich sein, als ich mitten auf dem Gehweg stand und meiner Mam nachsah. Normal. Ich wäre gern wieder normal gewesen. Ich wollte nicht mehr der Junge sein, der am Kanal so schlimme Dinge getan hatte. Ich wollte nicht mehr der Junge sein, der von der Schule geflogen war. Ich wollte nicht mal mehr ein Held sein, nicht mal mehr Rosemary Rainfords Freund. Ich wollte nur wieder der ganz gewöhnliche, normale, durchschnittliche Junge sein, der ich immer gewesen war.
    Und ich ging wahnsinnig langsam und hoffte, bis ich nach Hause kam, hätte sich vielleicht alles wieder irgendwie eingerenkt, wär vielleicht alles wieder normal. Doch als ich heimkam, saß meine Mam am Tisch und starrte aus dem Fenster. Und im Haus war es kalt und duftete überhaupt nicht nach Toast und Kaffee. Da ich aber unbedingt wollte, dass

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