Der Fliegenfaenger
starrte Akela bloß böse an, der nun fortfuhr: »Als Gruppenleiter habe ich die Verantwortung für das sittliche Wohl meiner Wölflinge. Und leider ist es nur allzu offensichtlich, dass ich nicht mehr für das sittliche Wohl der Gruppe garantieren kann, solange Raymond in der Organisation verbleibt.«
»Jetzt schlägt’s doch dreizehn!«, rief meine Großmutter. »Das ist ja der Gipfel!« Und wie eine gereizte Klapperschlange fuhr sie auf den Wölflingsgruppenleiter los: »Akela? Akela! Diesen Namen haben Sie ja gar nicht verdient! Rudyard Kipling würde sich im Grab umdrehen bei dem Gedanken, dass so ein rückgratloser kleiner Schlappschwanz wie Sie den Namen des furchtlosen Wolfs Akela trägt!«
Meine Mam mahnte meine Oma erneut, aber Akela marschierte schon zur Tür und erklärte, er lasse sich solche gehässigen Bemerkungen nicht bieten, ganz zu schweigen von der Verhöhnung der Pfadfinderkluft. Aber meine Oma war jetzt so in Harnisch, dass alle Proteste und Ermahnungen an ihr abprallten. Sie folgte Akela zur Tür und sagte: »Sittliches Wohl! Ausgerechnet Sie wollen mir einen Vortrag über sittliches Wohl halten, als Vertreter einer Organisation, deren Gründer ein pädophiler Zwerg mit kryptofaschistischen Tendenzen war!«
Das ging Akela offenbar doch unter die Haut, denn er drehte sich zu meiner Oma um und erklärte, der frühere Pfadfinderchef und Gründer der Bewegung habe ein tadelloses Leben geführt und derlei Verleumdungen, wie meine Oma sie gerade ausgesprochen habe, seien nur auf verantwortungslose, bösartige Medienberichte zurückzuführen, die einzig und allein die Absicht hätten, den Ruf eines großen, begabten Mannes zu beflecken.
Daraufhin sagte meine Oma, er solle sich verpissen. Und warnend fügte sie hinzu, sie werde keinen Penny mehr für die Pfadfinder rausrücken, sondern ihr Geld ab jetzt lieber den Pattexschnüfflern, Autoknackern und Fixern spenden, die vielleicht der Abschaum der Gesellschaft seien, aber wenigstens keine rückgratlosen Heuchler mit Halstuch.
Und dann knallte meine Oma die Tür hinter ihm zu und alles war still.
Ich saß auf der obersten Treppenstufe, von wo ich das Ganze mit angehört hatte. Jetzt wusste ich, dass man mich nicht mehr bei den Wölflingen haben wollte. Und wenn alle meine Freunde Spenden sammelten oder ins Zeltlager fuhren oder Räuber und Gendarm spielten, würde ich nicht mehr dabei sein; sie würden ab jetzt ohne mich Spenden sammeln, sie würden ohne mich zelten und um die Wette furzen. Alle andern würden auf den Wellen reiten – nur ich saß hier am Strand fest und musste aus der Ferne zuschauen.
Meine Mam sollte mich nicht weinen hören und merken, dass ich auf der Treppe gelauscht hatte. Deshalb schlich ich in mein Zimmer und zog meine Pfadfinderkluft aus. Und ich hielt sie in der Hand und betrachtete all meine Abzeichen, so viele, dass man vor lauter Abzeichen fast nichts mehr von der khakifarbenen Kluft sah: das Feuerwehrabzeichen, das »Helfer-alter-Menschen«-Abzeichen, das Radlerabzeichen, das Lebensretterabzeichen …
Plötzlich hörte ich ein Geräusch, und als ich mich umdrehte, stand meine Oma in der Tür. Sie fragte, ob alles in Ordnung sei, und ich nickte. Aber dann konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten und meine Oma kam ins Zimmer, setzte sich auf mein Bett und sagte: »Komm her.«
Und sie presste mich an ihren mächtigen weichen Busen und drückte mir einen Kuss aufs Haar. Meine Oma dachte, ich weinte wegen der Wölflinge, aber ich weinte, weil meine Mam mich nicht mehr lieb hatte, und das sagte ich ihr auch.
Und da weinte sogar meine Oma, drückte mich noch fester an sich und sagte: »Aber natürlich hat dich deine Mam noch lieb. Sie hat dich genauso lieb wie ich und das wird auch immer so bleiben, Raymond, mein Jungchen.«
Und wir saßen einfach auf dem Bett, bis wir uns etwas beruhigt hatten. Und dann sagte meine Oma: »Jetzt hör mir mal zu. Kümmer dich gar nicht darum, was deine Mam vorhin gesagt hat. Sie ist im Moment ziemlich wütend, aber sie hat es nicht so gemeint. Wenn man wütend ist, Raymond, sagt man ja alles Mögliche. Und jede Mutter wär wütend, wenn sie aus der Arbeit in die Schule zitiert würde und sich das anhören müsste, was deine Mam heute zu hören bekam.«
Ich nickte, weil ich wusste, wie furchtbar das für meine Mam gewesen war. Dadurch wurde alles ja nur noch schlimmer.
»Und vergiss nicht«, sagte meine Oma, »deine Mam hat es im Leben schwer gehabt. Nicht wie ihr Bruder; Gott
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