Der Fliegenfaenger
möge mir verzeihen, aber Jason ist so dumm wie eine Schachtel MarsRiegel. Doch das war sein Glück. Jason hat sich einfach so durchlaviert. Und wenn es irgendein Problem gab, hat ihn das nie gestört, weil er so furchtbar dumm ist, dass er es gar nicht merkt. Deine Mam war schon immer viel gescheiter als dein Onkel Jason. Sie ist sehr sensibel, Raymond. Sie macht sich Gedanken, deine Mam. Und sie gibt immer ihr Bestes. Sie hat es nie leicht gehabt. Dein Dad war auf seine Art gut zu ihr. Und man kann sich kaum einen sanfteren Menschen vorstellen als ihn. Aber trotz seiner Sanftheit und Herzensgüte hätte er auch die Geduld eines Mahatma Gandhi auf die Probe gestellt. Deine Mutter hat sich zwar alle Mühe gegeben, Raymond, aber Mahatma Gandhi war sie nicht und deshalb musste sie so handeln, wie sie es getan hat, und dich allein großziehen.«
Meine Oma nahm mein Gesicht in beide Hände und sagte lächelnd: »Und trotz des heutigen Tages und dessen, was dort unten am Kanal passiert ist, hat deine Mam ihre Sache bis jetzt sehr gut gemacht.«
Dann gab sie mir einen Kuss und sagte, sie müsse jetzt los, weil sie sonst zu spät zum Klubabend der »Progressiven Pensionäre« käme.
»Diese Woche geht’s um Philosophie!«, sagte meine Oma. »Wittgenstein! Da freu ich mich drauf. Er war ein ganz großer Denker. Und weißt du, was er gesagt hat, Junge?«
Ich schüttelte den Kopf, worauf mich meine Oma an sich zog und flüsterte: »Jungen mit schönem Haar sind genauso wichtig wie Philosophen!«
Meine Oma nickte, gab mir noch einen Kuss und sagte: »So, Kind, jetzt legst du dich hin. Schlaf eine Nacht und du wirst sehen, morgen früh sieht alles schon ganz anders aus.«
Und obwohl es draußen noch hell war und furchtbar früh, folgte ich dem Rat meiner Oma und legte mich hin und sie deckte mich zu und flüsterte: »Die Zeit bringt alles in Ordnung! Wart’s ab, in ein paar Wochen, spätestens in einem Monat, wird alles vergessen sein. Dann gehst du wieder zu den Wölflingen und machst deine Kreuzknoten und spielst Fußball und Schnitzeljagd.«
Dann gab mir meine Oma einen Gutenachtkuss und sagte: »Keine Bange: Irgendwann renkt sich das alles wieder ein.«
Und anscheinend schneller als gedacht. Denn kaum war meine Oma weg, kam meine Mam herauf und fragte mich, ob ich eine Tasse Milchkaffee wolle. Ich stand auf, ging mit meiner Mam nach unten und saß auf dem Sofa, während sie die Milch heiß machte. Aber meine Mam starrte aus der Küche dauernd zu mir her und immer noch so, als wisse sie nicht mehr, wer ich sei. Ich hätte ihr so gern alles erklärt. Aber ich war ja erst elf und wusste nicht, wie ich es formulieren und wie ich meiner Mam klarmachen sollte, dass das Ganze nicht halb so schmutzig und unanständig war, wie sie glaubte. Also saß ich einfach auf dem Sofa und merkte gar nicht, dass ich wieder zu weinen begann. Und plötzlich war meine Mam neben mir und nahm mich in den Arm. Und wir saßen einfach nur da und hielten uns weinend umklammert und meine Mam sagte, es sei alles ihre Schuld, denn wenn sie damals meinen Dad nicht rausgeworfen und mich allein großgezogen hätte, dann hätte sie nicht die ganze Zeit arbeiten müssen und hätte auf mich aufpassen können.
Am Schluss musste ich meiner Mam in die Augen schauen und ihr versprechen, dass ich so etwas wie dort unten am Kanal nie wieder tun würde. Ich legte die Hand aufs Herz und versprach es. Und da lächelte meine Mam ein bisschen und sagte, jetzt sei der Milchkaffee fertig. Und als sie mich fragte, ob ich vielleicht einen Toast dazu wolle, mit leckeren Champignons garniert, hatte ich das Gefühl, jetzt würde alles wieder gut und zwischen mir und meiner Mam sei nun alles wieder normal. Ich saß neben ihr auf dem Sofa, trank Milchkaffee und schaute mir Blankety Blank an. Eigentlich hasste ich Blankety Blank . Aber an jenem Abend gefiel es mir, als ich im Schlafanzug neben meiner Mam saß und Milchkaffee trank und dazu Toastbrot mampfte; an jenem Abend, als meine Mam über Les Dawson lachte, an jenem Abend, als ich glaubte, meine Oma hätte Recht und die Zeit hätte schon angefangen, diesen schrecklichen Schlamassel wieder in Ordnung zu bringen.
Aber leider hatte sich meine Oma total geirrt. Manchmal bringt die Zeit eben nicht alles in Ordnung. Manchmal wird der Schlamassel im Lauf der Zeit sogar noch schlimmer. Aber das hat meine Oma nicht gewusst und deshalb mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Denn woher hätten meine Oma oder ich oder sonst jemand
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