Der Fliegenfaenger
Wasser. Der Kanal! Da hat doch alles angefangen, Raymond, nicht wahr? Am Wasser!«
Er sah mich an und wartete auf eine Antwort. Dann kam er auf irgendwas anderes, aber ich hörte ihm gar nicht mehr zu. Denn plötzlich war ich mit meinen Gedanken weit weg. Ich war nicht mehr in diesem Raum, bei meiner Mam und dem Analpsychotiker. Ich war wieder am Kanalufer; es war der Tag, an dem Albert ins Wasser gefallen und ich hinter ihm hergetaucht war und ihn gerettet hatte. Und dann saß ich im Büro des stellvertretenden Schulleiters. Nachdem alles aufgeflogen war und der Neue Schulleiter es in etwas Hässliches, Schmutziges verwandelt hatte. Und da hatte ich ganz allein auf meine Mam gewartet, während man sie aus dem Supermarkt in die Schule zitierte und ihr dort alles berichtete. Ich hatte eine Ewigkeit warten müssen; eine lange, lange Ewigkeit, bis endlich die Tür aufging und meine Mam dastand und mich anschaute. Voller Enttäuschung und Ekel. Sie schaute mich an, als kenne sie mich nicht mehr.
»Raymond!«, sagte der Analpsychotiker.
Ich blickte auf. Er sprach gerade davon, dass er mich in seine Klinik aufnehmen wolle, wo er irgendwelche Forschungen betrieb. Aber ich hörte gar nicht richtig zu. Denn jetzt wusste ich es. Ich wusste, warum mich meine Mam angeschaut hatte, als kenne sie mich nicht mehr. Ich wusste, warum ich sie manchmal dabei ertappte, wie sie mich verwirrt ansah. Jetzt hatte ich es begriffen.
Der Analpsychotiker brachte uns zur Tür und sagte meiner Mam, sie müsse mich in der Klinik anmelden. Dann stiegen wir die Treppe hinunter und gingen zur Bushaltestelle und meine Mam war furchtbar wütend auf mich und sagte, Einiges von dem, was ich zum Analpsychotiker gesagt hätte, hätte sie richtig angewidert. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr, denn ich wusste, was ich zu tun hatte; ich wusste, wie ich alles wieder in Ordnung bringen konnte. Meine Mam brauchte sich keine Sorgen mehr zu machen. Sie musste ihr sauer verdientes Geld nicht Leuten wie dem Analpsychotiker in den Rachen werfen. Er war einfach nur dumm! Und völlig ahnungslos. Aber andererseits hatte es auch sein Gutes, dass wir dort gewesen waren, denn wenn mir nicht das Beispiel mit dem Wasser eingefallen wär, hätte ich es vielleicht nie begriffen. Jetzt war alles sonnenklar, als wir aus dem Bus stiegen und nach Hause gingen. Meine Mam war immer noch sauer auf mich und sagte, sie sei mit ihrem Latein am Ende. Aber ich wusste genau, was zu tun war. Es schien plötzlich so nahe liegend und einfach. Ich fragte mich wirklich, warum es mir nicht schon früher eingefallen war: Ich war der falsche Junge! Der falsche Junge war aus dem Kanal aufgetaucht und deshalb starrte mich meine Mam immer so befremdet an. Weil ich nicht der war, der ich eigentlich sein sollte; ich war nicht mehr ich! Ich war nie mehr ich gewesen, seit jenem Tag, als ich Albert Goldberg aus dem Kanal gerettet hatte. Davor war ich ein netter kleiner Junge gewesen, ein ganz normaler netter kleiner Junge, der zu seiner kleinen Cousine niemals etwas vom Bumsen oder von Prostituierten gesagt und der niemals behauptet hätte, Prinzessin Leia sei tot, wo es doch gar nicht stimmte. So etwas hätte ich nie getan; nicht, wenn ich noch der Junge von früher gewesen wär. Aber dieser nette Junge war verschwunden. Und jetzt wusste ich auch, wohin. Er war noch im Kanal!
Als wir ins Haus traten, sprach meine Mam immer noch kein Wort mit mir, so sauer war sie. Sie sagte nur, nach allem, was ich zu diesem armen Arzt gesagt hätte, traue sie sich kaum noch in seine Nähe.
Ich sagte zu meiner Mam: »Schon gut, das wird auch nicht mehr nötig sein. Und ich muss auch nicht in diese Klinik.«
Aber meine Mam schimpfte: »Untersteh dich! Natürlich gehst du da hin! Du gehst in diese Klinik! Egal, was es kostet, egal, ob ich mir Geld leihen muss – wir werden dieser Sache auf den Grund gehen. Mir reicht’s jetzt nämlich!«
Ich fand es sehr seltsam, dass meine Mam gesagt hatte, wir müssten der Sache auf den Grund gehen, denn sie hatte völlig Recht. Genau das war mein Plan.
Ich sagte zu meiner Mam, ich würde draußen im Garten spielen, weil es so heiß war. Aber sie reagierte nicht. Da nahm ich ein paar von meinen Star Wars -Figuren und ging hinaus. Ich hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen wegen meiner Heimlichtuerei. Aber es sollte ja eine Überraschung sein. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich zurückkam und meine Mam mich ansehen und sofort merken würde, dass ich wieder ihr netter
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