Der Fliegenfaenger
Junge war.
Ich wartete ein paar Minuten. Dann erhob ich mich vom Boden und wusste, alles würde wieder gut. Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich ging ans Ende des Gartens und kletterte über den Zaun. Dann rannte ich los, die Straße rauf, die Abkürzung runter, am Bäcker vorbei, durchs Tor und durch die Freizeitanlage, ich rannte an den Schrebergärten vorbei, bog auf den Weg ein, rannte über die Brücke und runter zur Aschenbahn und dann durch dieWiese, so schnell ich konnte. Es war ein komisches Gefühl zu rennen, weil ich spürte, wie alles an mir schwabbelte. Aber das machte nichts, denn das war ja gar nicht ich, dieser dicke Junge, dieser schreckliche Junge, dieser Junge, der nicht mal richtig rennen konnte und dem gleich die Puste ausging, das war nicht ich; das war ich nie gewesen. Und jetzt ging ich zurück, um mich zu suchen. Und dann würde alles wieder gut, dann würde alles wieder wie früher sein, wenn der dicke Junge in den Kanal stieg, wo er hingehörte; und der nette Junge aus dem Wasser zurückkehrte. Alles würde wieder so sein wie früher. Alle meine Freunde würden wieder mit mir spielen und ich würde wieder zu den Pfadfindern gehen und meine Mam musste mich nicht mehr dauernd anschreien. Und fast hätte ich gelacht bei dem Gedanken, wie mich meine Mam manchmal angestarrt hatte, ganz verwirrt, als kenne sie mich nicht mehr! Und es hatte mich jedes Mal empört, wenn ich sie zufällig dabei ertappte. Aber jetzt war mir klar, dass sie absolut im Recht gewesen war. Denn sie hatte ja den falschen Jungen vor sich gehabt. Und ich konnte es kaum noch erwarten, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie heute Abend einen Blick aufs Sofa warf und plötzlich merkte, dass da wieder ihr richtiger Junge saß, ihr netter Junge! Ich rannte immer schneller durchs Gras, lachte jetzt laut vor mich hin, als ich an meine Mam dachte und an ihre Freude, wenn sie sehen würde, dass endlich wieder ihr netter Junge zurückgekommen war.
Ich achtete gar nicht auf das kleine Mädchen, das vor mir herrannte, als ich aus der Wiese kam und den Treidelpfad hinauflief, hinten an den Bungalows vorbei auf die Brücke zu, wo die alten Lagerhallen und die baufälligen Häuser anfingen.
Es war ein kleines Mädchen, irgendein Kind. Wahrscheinlich spielte es Fangen oder Verstecken mit seinen Freundinnen, die sich irgendwo ins Gras niederduckten.
Während sie weiterrannte, wurde ich langsamer und schnappte nach Luft. Ich ging aufs Kanalufer zu, an der gleichen Stelle, wo wir die Fliegen gefangen hatten und wo ich an dem Tag, als ich verschwand, untergetaucht war. Das Wasser glitzerte und funkelte golden in der Abendsonne; und ich wusste, dass das Wasser glücklich war, weil der Falsche Junge jetzt endlich dorthin zurückkehrte, wo er hingehörte. Ich wusste, dass ich Recht hatte und dass der Kanal im Tausch gegen den Falschen Jungen bereitwillig seinen Gefangenen herausgeben würde. Ich wusste, dass der nette Junge bald frei sein würde, dass er bald aus dem Kanal steigen würde, nett und normal, mit lächelndem Gesicht.
Und deshalb tat ich es. Ich wartete, bis ich wieder richtig Luft bekam. Dann schaute ich links und rechts den Treidelpfad entlang, um sicherzugehen, dass niemand kam und dass das kleine Mädchen und seine Freundinnen nicht mehr in der Nähe waren.
Und dann nahm ich Anlauf, rannte auf den Kanal zu, sprang in die Luft und hielt wie bei einer Wasserbombe meine beiden Knie umklammert. Kurz bevor ich im Wasser landete, hörte ich noch den Wagen über die Kanalbrücke kommen. Dann hörte ich nichts mehr und sank in die Stille hinab; tiefer und immer tiefer …
Und ich sah, dass ich Recht hatte. Ich sah, dass ich die ganze Zeit Recht gehabt hatte. Denn in der Tiefe des Kanals war alles noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte, so vollkommen ruhig und unberührt wie damals. Ich streckte die Hand aus, und tatsächlich lag dort im dunklen, trüben Wasser der rostige Einkaufswagen, von Unkraut überwuchert, genau dort, wo ich es erwartet hatte. Ich hatte Recht gehabt, alles war unverändert. Und obwohl ich nichts sehen konnte, hielt ich die Augen weit offen, und dann, direkt vor mir, genau dort, wo ich es erwartet hatte, wurde etwas immer deutlicher erkennbar. Und dann war er da! Genau dort, wo ich es erwartet hatte, saß der Nette Junge ganz ruhig auf dem Grund des Kanals und lächelte, als habe er die ganze Zeit geduldig auf mich gewartet. Und ich winkte ihm zu und schwamm lächelnd zu ihm hin. Erst dachte ich, ich sei
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