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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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grauenvollen Vorgängen, unaussprechlichen Dingen gehört. Und von einem Jungen! Einem Jungen vom anderen Ende der Siedlung, der seinen Jahren weit voraus war, wie es hieß; ein Junge, den man eigentlich gar nicht mehr als Jungen bezeichnen konnte, eine Bestie von einem Jungen, ein Sittenstrolch!
    Und damals, zu Beginn des Sommers, damals, als alles anfing, damals, als die Kinder vom anderen Ende der Siedlung zum Kanal gelockt und zu unsäglichen Dingen gezwungen worden waren, damals hatten alle gesagt, dass da bestimmt noch was nachkommen würde und dass man etwas unternehmen müsse.Weil solche Kinder, die einen schlechten Einfluss haben und ihre arglosen Spielgefährten verderben und zu hässlichen Dingen verführen, weil solche Kinder eigentlich gar keine Kinder sind; weil so ein Junge, wenn man ihn nicht im Auge behält, eine tickende Zeitbombe ist.
    Aber davon wussten wir nichts, ich und meine Mam.
    Wir schauten uns die Ewoks, die Wookies, Han Solo, Obi-Wan Kenobi und den Rest der Bande an.
    Und jetzt war das kleine Mädchen im Krankenhaus, und im Hintergrund des Zimmers standen ihre Mam und ihr Dad und der Polizist und die Polizistin, während die Ärztin vor Paulette kniete, ihre Prellungen betupfte, ihre Kratzer eincremte und ganz beiläufig fragte: »Irgendjemand hat dir wehgetan, Paulette, nicht wahr?«
    Paulette sah zuerst die Ärztin an. Dann sah sie an ihr vorbei nach hinten, wo ihre Mam und ihr Dad mit der Polizei standen. Paulette starrte ihren Vater mit weit aufgerissenen Augen an, ohne zu zwinkern, und er starrte zurück und auf seiner Oberlippe glänzten kleine Schweißperlen, als die Ärztin Paulette erneut fragte: »Kannst du uns sagen, wer das gewesen ist, Paulette?«
    Niemand sah das Gesicht ihres Vaters; niemand außer Paulette sah die Warnung, die Drohung in seinem Blick.
    »Hör mal, Paulette«, sagte die Ärztin. »Du weißt doch, dass wir dich vorhin untersucht haben, als du hier angekommen bist, nicht wahr?« Die Ärztin nickte lächelnd. »Und deshalb wissen wir es, Paulette; deshalb wissen wir, dass dir jemand etwas sehr Schlimmes angetan hat.«
    Paulette starrte an der Schulter der Ärztin vorbei und sah ihre Mutter, die wie ein Zombie auf den Boden stierte; sie sah die Polizistin, der die Tränen übers Gesicht strömten.
    »Die Person, die das getan hat«, fragte die Ärztin, »kennst du diese Person, Paulette?«
    Paulette Patterson, die immer noch starr ihren Vater ansah, nickte langsam.
    Die Warnungen, die Drohungen in den Augen ihres Daddys zählten jetzt nicht mehr; nicht hier. Jetzt war es ganz leicht, wo doch die Ärztin da war und der Polizist und die Polizistin.
    »Kannst du es mir sagen?«, fragte die Ärztin. »Kannst du mir den Namen der Person nennen?«
    Paulette Patterson nickte erneut und starrte immer noch ihren Vater an , als sie leise sagte: »Er.«
    Paulette beobachtete, wie der Kopf ihres Vaters gegen die Wand sank, sein Mund stand weit offen.
    Und wenn die Ärztin dem Blick des Mädchens gefolgt wär, hätte sie es vielleicht erraten.Wenn der Polizist nicht damit beschäftigt gewesen wär, seine in Tränen aufgelöste Kollegin zu trösten, hätte er es vielleicht bemerkt.
    Doch die Ärztin folgte dem Blick des Mädchens nicht. Sie sah Paulette fragend an und sagte: »Wer? Paulette, wer ist er ?«
    Und in diesem Moment kam Paulettes Daddy zurück; er löste den Kopf von der Wand, ihr richtiger Daddy; der Daddy, in dessen Gesicht keine Drohung oder Warnung mehr stand, der nicht zornig die Kiefer zusammenbiss, dem nicht die kalte Wut in den Augen stand; nur noch stumme Verzweiflung, ängstliches Flehen; ein hilfloser Appell.
    Und in diesem Blick sah Paulette, was sie unbedingt brauchte und sehen wollte; in diesem Blick sah sie Liebe, Fürsorge, Reue, Bedauern und Gewissensbisse. Paulette sah in den Augen ihres Vaters Liebe; die einzige Liebe, die sie je gekannt hatte.
    Und als die Ärztin noch einmal fragte: »Wer, Paulette, wen meinst du mit er ?«, holte Paulette Patterson tief Luft, wandte den Blick von ihrem Vater ab, sah die Ärztin direkt an und sagte: »Der Sittenstrolch.«
    Aber davon wussten meine Mam und ich nichts.
    Wir spielten Bowling und aßen leckere Donuts. Und selbst auf dem Heimweg im Taxi wussten wir es noch nicht.
    Der Taxifahrer sagte zu meiner Mam: »Ihr beiden seht ja aus, als hättet ihr euch prächtig amüsiert!«
    Und meine Mam erwiderte: »Ja, wir haben uns wunderbar amüsiert!« Sie nahm mich in den Arm und fragte mich lächelnd: »Nicht

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