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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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erste Mal, dass er so etwas getan hat, oder?«
    »Doch, wie ich schon sagte«, beharrte meine Mam. »Er hat so was noch nie getan!«
    Sie sah ihn mit empörter Miene an, dann sagte sie: »Jetzt haben Sie ja all Ihre Fragen gestellt und ich muss mich um meine Wäsche kümmern. Also, wenn ich bitten darf.«
    Meine Mam trat einen Schritt vor und hielt ihm die Tür auf. Doch der Detective Sergeant rührte sich nicht vom Fleck. Er sagte: »Sie haben ein schlechtes Gedächtnis, Mrs. Marks. Ihr Sohn hat so etwas noch nie getan? Warum ist er dann von der Binfield Junior School geflogen? Doch wohl, weil er damals eine ganze Gruppe von Jungs zu grob anstößigen Handlungen verleitet hat.«
    Meine Mam starrte ihn entsetzt an und hob unwillkürlich die Hand zum Mund.
    »Sind Sie … sind Sie … deswegen hier?«, fragte sie. »Es war nicht grob … anstö … es war nichts dergleichen, das hat Dr. Janice gesagt, Dr. Janice! Reden Sie mit Dr. Janice im Krankenhaus, die wird Ihnen alles erklären!«
    »Ich brauche mit keiner Ärztin zu reden«, erwiderte er. »Ich habe schon mit genügend Leuten geredet. Zum Beispiel mit seinem damaligen Schulleiter, Mrs. Marks. Und mit anderen Eltern hier in der Stadt. Ich habe den größten Teil des Tages damit verbracht, mit allen möglichen Leuten zu reden, Mrs. Marks. Ich weiß ganz genau, was damals am Kanal passiert ist.«
    »Hören Sie«, rief meine Mutter. »Das war ein bisschen Schweinkram, sonst nichts!« Sie schüttelte fassunglos den Kopf. »Ein bisschen Schweinkram!«, wiederholte sie und streckte fast flehentlich die Arme aus. Aber der Detective Sergeant stand bloß da und starrte meine Mam an. »Und ich kann Ihnen sagen«, fuhr sie fort, »wir haben bitter dafür bezahlt! Wir haben wegen diesem bisschen Schweinkram schon genug durchgemacht! Dieser Schulleiter!« fuhr sie fort. »Dieser Mistkerl, kann er uns nicht endlich in Ruhe lassen? Wieso schaltet er wegen so was die Polizei ein? Wegen einer Sache, die doch längst vorbei ist?«
    Der Detective Sergeant schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind nicht auf Betreiben des Schulleiters hier«, sagte er. »Den haben wir nur im Rahmen unserer allgemeinen Ermittlungen befragt. Aber wir sind nicht seinetwegen hier.« Er hielt einen Moment inne, dann sagte er: »Heute Abend, Mrs. Marks, bin ich wegen des kleinen Mädchens da.«
    Meine Mam runzelte die Stirn. »Wegen welchem kleinen Mädchen?«, fragte sie.
    Der Detective Sergeant schnaubte ungläubig und sagte: »Das kleine Mädchen, das sexuell missbraucht wurde!«
    Meine Mam starrte ihn an und riss plötzlich entsetzt die Augen auf. »O mein Gott!«, sagte sie und sank seitlich gegen die Treppe. »Unsere Dolly! Kommen Sie wegen Dolly?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie heißt nicht Dolly. Sie heißt Paulette. Paulette Patterson. Aber sie ist kaum älter als Ihre kleine Nichte, Mrs. Marks. Irgendjemand hat sie in ein leer stehendes Lagerhaus gelockt. Und als dieser Jemand mit ihr fertig war, hat er sie dort gelassen, eingesperrt im Keller. Achtzehn Stunden hat sie dort zugebracht. Als wir sie fanden, war sie in einem fürchterlichen Zustand, voller Schnittwunden, Prellungen, Schrammen, nur noch spärlich bekleidet. Eigentlich hätten wir das ärztliche Gutachten gar nicht mehr gebraucht. Aber die Untersuchung hat es natürlich bestätigt. Tja, Mrs. Marks, bevor er sie dort allein im Keller zurückließ, hat sich jemand an ihr … vergangen.«
    Meine Mam lehnte immer noch an der Treppe und starrte den Detective Sergeant entsetzt an, voller Mitgefühl für das fürchterliche Unglück, das diesem armen Kind widerfahren war.
    »Und die Sache ist die«, fuhr der Detetctive Sergeant fort. »Das leer stehende Lagerhaus, wo wir Paulette gefunden haben, dieses Lagerhaus, Mrs. Marks, befindet sich zufällig am Kanal. Kaum fünfzig Meter von der Stelle entfernt, an die ihr Sohn damals seine kleinen Freunde mitgenommen hat. Fünfzig Meter von der Stelle entfernt, wo ihn gestern Abend zwei Polizisten aus dem Wasser gefischt haben.«
    Es trat Totenstille ein. Was meinte er denn?! Ich kauerte oben auf dem Treppenabsatz und sah wie in Zeitlupe das Gesicht meiner Mam: Ihre Miene verzerrte sich, der Mund klappte auf und in ihren Augen stand blankes Entsetzen. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, was hier geschah. Und meiner Mam ging es genauso. Dann stieß sie einen Laut aus – es klang wie der klagende Schrei eines verwundeten Tiers.
    »Raymond?«, rief sie.

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