Der Fliegenfaenger
leer war. Und eines Tages sagte die Abteilungsleiterin zu ihr, es tue ihr wirklich sehr, sehr Leid, aber meine Mam müsse wieder als Packerin arbeiten. Ich wusste, dass das alles für meine Mam furchtbar war. Und manchmal hörte ich sie zu meiner Oma sagen: »Ach Mutter, wie soll es nur weitergehen?«
Aber anscheinend wusste nicht mal meine Oma, wie es weitergehen sollte, denn sie seufzte und antwortete erschöpft: »Ich weiß es nicht, Liebes, ich weiß es nicht.«
Und manchmal fiel meiner Mam plötzlich ein, dass ja im September das neue Schuljahr begann, und dann sagte sie: »Hier geht es nicht. Ich kann ihn unter keinen Umständen hier auf die Gesamtschule schicken.«
Es war furchtbar, Morrissey. Im Haus meiner Oma herrschte von morgens bis abends Trübsinn. Manchmal versuchte mich meine Oma ein bisschen aufzuheitern und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mir mit ihr zusammen die spanischen Satellitennachrichten anzusehen. Aber ich hatte zu nichts Lust. Ich wollte nur in dem Kämmerchen unter der Treppe sitzen, wo ich vor allen Blicken geschützt den ganzen Tag meine Comics katalogisieren konnte.
Meine Oma wusste es, meine Mam wusste es, und ich wusste es natürlich auch: dass ich dem kleinen Mädchen nichts angetan hatte. Daran versuchte ich immer zu denken, während ich überprüfte, ob meine Comics alle in Ordnung waren und jedes Heft in der richtigen Plastikhülle steckte, auf die vorn feinsäuberlich der Titel draufgedruckt war. Früher, bevor man mir unterstellte, ich hätte dem kleinen Mädchen so etwas Schlimmes angetan, war es das allerschönste Gefühl für mich gewesen, meine Comics zu katalogisieren, da hatte ich mich gefreut, wie schön die Titelseiten glänzten und wie ordentlich jedes Heft in seiner Plastikhülle steckte, mit dem Titel vorn drauf. Nur … jetzt war die Freude über meine schöne Comicsammlung erloschen. Nichts machte mir mehr Freude, seitdem es geheißen hatte, ich hätte dem kleinen Mädchen so etwas Schreckliches angetan; die ganze Zeit versuchte ich, mir klarzumachen, dass ich ja überhaupt nichts Falsches oder Böses getan hatte. Aber wie sehr ich es auch versuchte, ich hatte doch immer das Gefühl, befleckt und beschmutzt zu sein. Es war, als hätte man mich besudelt. Und wie zum Beweis wuchsen mir jetzt unter den Armen und zwischen den Beinen dunkle Haarbüschel. Und irgendwie wusste ich, dass ich nie mehr ein netter Junge sein würde, jetzt nicht mehr. Er war für immer verschwunden, der Junge mit der glatten Haut und dem Sinn für die Freuden des Comickatalogisierens. Jetzt war ich wirklich zum Falschen Jungen geworden.
Mit freundlichen Grüßen
Raymond Marks
Busbahnhof Gibbet Street,
Huddersfield,
West Yorks
Lieber Morrissey,
ich bin immer noch hier! Ich hatte ja dort im Restaurant al dente gesessen und an dich geschrieben, und als ich plötzlich merkte, wie spät es war, bin ich zurückgerast, den ganzen Weg vom Lokal zum Busbahnhof. Aber als ich dort ankam, war es zu spät. Der Siebzehn-Uhr-Bus nach Grimsby bog gerade aus dem Bahnhof und brauste davon.
Die Frau im Fahrkartenverkauf sagte, das sei heute der letzte nach Grimsby gewesen. Ich stand da und überlegte, was ich tun sollte. Aber die Fahrkartenfrau war sehr nett. Ich glaube, sie hatte irgendwie Mitleid mit mir.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ich muss nach Grimsby«, sagte ich. »Meine Mam wird sich wahnsinnige Sorgen machen, weil ich ihr versprochen hab, dass ich gleich anrufe, wenn ich dort bin, und wenn ich sie nicht anrufe, denkt sie bestimmt, mir ist was passiert.«
Die Fahrkartenfrau schüttelte mitfühlend den Kopf. »Das tut mir Leid«, sagte sie, »aber der nächste Bus nach Grimsby geht erst morgen früh.«
Ich stand da und nickte. Dann überlegte ich weiter, was ich tun könnte.
»Wollten Sie nach Hause fahren?«, fragte sie. »Kommen Sie aus Grimsby?«
Ich schüttelte den Kopf. Und wenn sie nicht so nett gewesen wär, hätte ich diese Unterstellung als schwere Beleidigung empfunden.
»Nein«, sagte ich, »aber ich soll dorthin, um einen Job anzutreten, und meine Mam war wahnsinnig glücklich, weil es der erste Job meines Lebens ist!«
»Ja, ja«, sagte die Fahrkartenfrau, »es ist doch immer das Gleiche mit euch jungen Burschen! Ihr brecht euren Müttern das Herz. Warum rufen Sie Ihre Mam nicht einfach an und sagen ihr, dass es Ihnen gut geht?«
»Würde ich ja tun«, erwiderte ich, »aber man hat mir meine Brieftasche gestohlen und ich hab kein Geld.«
Die
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