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Der Fliegenfaenger

Der Fliegenfaenger

Titel: Der Fliegenfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Russell
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die Garibaldis. Und meine Oma freute sich, denn ein Keks, sagte sie, ein Keks, der nach dem Vater der italienischen Einigung benannt ist, der habe doch etwas Erhebendes. Wogegen es sich beim Erdnusstaler um einen Keks handle, dessen bedauerlichen Mangel an historischer Bedeutung die Amerikaner mit zu viel Zucker wettzumachen versuchten.
    »So sind sie eben, die Yankees!«, sagte meine Oma, als sie den Wasserkessel aufsetzte und die Garibaldis vom Schrank holte. »Zum Teil sehr klug, wirklich sehr klug! Aber zu viel Zucker! Und einer Nation tut es nie gut, Raymond, wenn sie zu viel Süßigkeiten isst!«
    Ich saß am Tisch, nickte ab und zu und lauschte meiner Oma, die jetzt über Amerika und Mark Twain sprach und sagte, die Amerikaner wüssten vielleicht nicht, wie man Kekse macht, doch andererseits könne man eine Nation, die uns den Huckleberry Finn geschenkt hat, auch nicht in Bausch und Bogen verdammen. Und es tat mir gut, einfach dazusitzen und zuzuhören, wie meine Oma vom Hundertsten ins Tausendste kam. Sie stellte mir überhaupt keine Fragen. Sie kochte Tee und erzählte mir von der Weltwirtschaftskrise in den Dreißigerjahren und von den Reichen in Kalifornien, die das Obst mit Kreosot spritzten, damit die Armen keine Orangen essen konnten.
    Und erst als der Tee fertig war und wir am Tisch saßen und Garibaldikekse in die Tassen tunkten, sah mich meine Oma an und sagte: »So, mein Junge. Ich glaube, jetzt hab ich genug geredet, findest du nicht auch? Jetzt halt ich mal den Mund und überlasse dir das Reden, Raymond.«
    Sie saß da und starrte mich an. »Also, was ist passiert?«, fragte sie.
    Wir sind nicht mehr in unser Haus zurückgegangen, meine Mam und ich. Meine Oma sagte, das sei zu gefährlich für uns. Ich verstand nicht, was sie meinte. Aber sie sagte, jetzt sei keine Zeit, sie werde es mir später erklären.
    »Im Augenblick, mein Junge«, sagte sie, »muss etwas geschehen, und zwar schnell; wenn ihr nicht alles verlieren wollt, du und deine Mam.«
    Sie rief meinen Onkel Jason an und befahl ihm, er solle sofort mit dem Lieferwagen kommen, schnell!
    Ich hörte, wie er ins Telefon bellte, es sei mitten in der Nacht und ob sie den Verstand verloren hätte!
    Aber meine Oma sagte nur: »Hör mal, Jason, so viel ich weiß, bist du an Nachtarbeit gewöhnt! Und wenn du nicht willst, dass deine heimlichen Aktivitäten bekannt werden, dann komm jetzt sofort mit dem Lieferwagen, und bring zur Unterstützung noch ein paar von deinen dubiosen Helfern mit!«
    Ich hörte ihn empört protestieren, es gebe weder irgendwelche dubiosen Helfer noch heimliche Aktivitäten! Aber meine Oma sagte nur: »Ach ja? Und wo kommen dann all die Backsteine und Schieferplatten und Säcke mit Fertigbeton für deinen neuen Anbau her?«
    Danach hängte meine Oma einfach ein und trug mir auf, in der Tasche meiner Mam nach dem Hausschlüssel zu suchen. Als ich mit ihm zurückkam, hatte meine Oma schon ihren Mantel an. Ich fragte sie, was los sei, wohin sie wolle.
    Da setzte sich meine Oma auf einen Stuhl. Und dann nahm sie meine Hände und sagte: »Jetzt hör mir mal zu, mein Junge. Manchmal passieren Dinge, die sind einfach nicht fair. Zum Beispiel das, was dir gerade passiert. Das ist alles andere als fair! Aber manchmal, Raymond, kann man kaum etwas dagegen machen. Ich weiß, was sie euch in der Schule beibringen. Dass man Polizisten trauen kann und dass wir in einer gerechten Gesellschaft leben und dass der Unschuldige nichts zu fürchten hat.«
    Meine Oma nickte und sah mich scharf an.
    »Und zum Glück«, fuhr sie fort, »trifft das meistens auch zu, mein Junge. Aber manchmal, wenn es um ganz bestimmte Dinge geht, kann man sich nicht auf das verlassen, was man in der Schule hört. Verstehst du?«, sagte sie. »Verstehst du, welche Dinge ich damit meine?«
    Ich nickte. »Ich glaub schon«, antwortete ich.
    Auch meine Oma nickte wieder. »Dinge, die mit Sex zusammenhängen«, sagte sie. »Mit Sexualität.«
    Ich schüttelte den Kopf und brach erneut in Tränen aus. »Ich hab’s nicht getan, Oma!«, schluchzte ich. »Ich hab das kleine Mädchen nicht angerührt!«
    »Das weiß ich doch!«, sagte meine Oma, nahm meinen Kopf in ihre Arme und presste mich an ihren Busen. »Ich weiß, dass du es nicht warst, mein Junge.« Und jetzt weinte auch meine Oma, als sie fortfuhr: »Du? Du bist genauso weich und sanft wie dein Vater und ich weiß, dass du einem kleinen Mädchen nie wehtun könntest.«
    Meine Oma wiegte mich in ihren Armen und

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