Der Fliegenpalast
Neunzehnhundertsechzehn? Damals, als er mehrere Wochen dienstlich für das Außenministerium in Berlin war, hatte er endlich einmal ausgiebig Gelegenheit zu Gesprächen mit Max Reinhardt gehabt, die ihn ungemein belebt hatten. In wenigen Tagen hatte er in seinem Zimmer im
Adlon
ein paar Sachen geschrieben, ein Ballett nach Moliéres
Eingebildetem Kranken
, ein Raimund-Stück bearbeitet, und die
Lästigen
– als Stück von Moliére angekündigt, jedoch von ihm verfaßt … Ein weiteres Ballett,
Die grüne Flöte
, schließlich. Auch hatte er für Reinhardt alle diese Sachen für die Aufführungen einzurichten gehabt … Adaptionen, Pantomimen … Auf einmal war er so im Arbeiten gewesen, daß ihm auch die Neufassung des Moliéreschen Vorspiels zur
Ariadne
, der neuen Fassung für die Aufführung an der Wiener Hofoper im Oktober, gut von der Hand gegangen war.
VON IRGENDWO her war Gesang zu hören, aus irgendeinem Fenster, eine Frau übte Tonleitern – das mußte die Elisabeth … Er blieb stehen, nahm den Hut in die Hand, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Jedenfalls waren sie also noch hier. Er war Krakauer in den letzten zwei Tagen nicht begegnet. Jetzt die berühmte Arie aus
La Traviata
. Weshalb erinnerte sie ihn an die erschreckende Stelle aus
Othello
, an den Abend auf dem Schönenberg beim Carl daheim, kürzlich, ein paar Tage, bevor sie aufgebrochen waren nach Lenzerheide? Mittendrin hatte er Carl gebeten, die Nadel seines Grammophons von der Platte zu heben und die Arie des Jago noch einmal abzuspielen:
Credo in un dio crudel che m’ha creato simile a sé
… Er hatte herausfinden wollen, was ihn so furchtbar erschreckt hatte; beim zweiten Anhören jedoch wiederholte sich das Erschrecken nicht mehr. Carl hatte angeboten, seine Schwester um das Textbüchl zu bitten, er wisse, daß sie eine Ausgabe bei ihren Musiksachen habe. Dann könnten sie die ganze Passage aus dem zweiten Akt nachlesen.
Er überlegte, falls es zu einer Begegnung kam, die Baronin zu fragen, ob sie gelesen habe, was heute im
Salzburger Volksblatt
stand, von der fürsterzbischöflichen Reitschule in Salzburg, welche derzeit umgebaut werde zu einer Aufführungsstätte für die Festspiele. Daß im Zuge dessen viele Arbeitsplätze geschaffen worden waren und dies den Unmut gewisser Kreise der Bevölkerung etwas gemildert habe. Er hatte die Bank an der Kirchenmauer erreicht. Wieder der Gedanke, die restlichen Tage hier in der Fusch die Mappe mit dem
Timon
nicht mehr aufzuschlagen. Gerne sagte er sich immer wieder einmal, der Krieg, die lange Unterbrechung sei mit eine Ursache dafür, dass er an seinen geplanten Arbeiten scheiterte, vor allem am Roman.
Die Ottonie war damals, vor vielen Jahren, tatsächlich sehr beeindruckt gewesen, als er ihr in Hinterhör an einem Nachmittag eine Stunde lang von den Abenteuern des Andreas Ferschengelder aus seinem Romanfragment vorgelesen hatte. Oft war er ihr in Gedanken so nah, wie er kaum je einem Menschen gewesen war; begegnete er ihr dann in Neubeuern, erschien sie ihm manchmal beinah als eine Fremde, und manchmal war er froh gewesen, wenn die Gerty mitgekommen war, die seine Erstarrung bemerkte und mit ein paar Sätzen löste. Natürlich, Ottonie hatte unendlich viel zu tun, all die Kinder, die sie während der Kriegsjahre betreute. Aber nicht nur Kinder waren in Hinterhör untergekommen, auch Kriegsverletzte, Flüchtlinge, und um alle mußte sie sich kümmern.
IN AUSSEE , nahm er sich vor, werde ich dem Rudolf Borchardt schreiben. Was fährt bloß immer in mich? Auch mit dem Zifferer, dem ich soviel verdanke, hätte ich es mir wohl verdorben, wenn er nicht so ein loyaler Mensch wäre. Aber ich mußte ihm etwas sagen zu seinem
Kaiserstadt
-Roman, ein Schweigen hätte ihn ebenso gekränkt. Und ich hab mich nun einmal seit langem entschlossen, den Leuten, die mir ihre Bücher schicken, unverfälscht meine Meinung zu sagen, sobald ich sie gelesen habe. Der Roman von Zifferer, dachte er, würde sich ja geradezu anbieten als ein Fortsetzungsroman im
Interessanten Blatt
. Viele Schriftsteller, schien ihm, würden den letzten Wunsch einer Epoche erfüllen, wo diese schon einen neuen hatte …
Eine Dame, die an ihm vorbei die Kirche betrat, nickte ihm freundlich zu. Jetzt fiel ihm das Wort
Espadrillos
ein, das er gestern gesucht hatte, als er eine Szene für den
Timon
skizziert hatte. Die weißen Espadrillos dieser Dame passten allerdings überhaupt nicht zu ihrem Dirndlkleid mit der dunkelgrünen
Weitere Kostenlose Bücher