Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
Vom Netzwerk:
Schürze. Auf den verfugten Steinplatten geschäftige Ameisen: War das nicht ein schlechtes Zeichen für die kommenden Tage? Die ersten Blätter waren schon von der riesigen Buche gefallen; vielleicht waren es die heftigen Winde am Vortag.
    Damals, als er jung war: Gedichte waren auch bei schlechtem Wetter, bei niedrigem Barometerstand entstanden … Joseph Conrad fiel ihm wieder ein, dessen Erinnerungsbuch
A Personal Record
er vor ein paar Jahren gelesen hatte. Niemals, hatte er damals gedacht, wär ich imstande, ein Buch über mich zu schreiben … In der kleinen Bibliothek des Hotels, in der er sich kürzlich umgesehen hatte, stand
The Secret Agent
. Schon in seiner Jugend hatte er den Eindruck gehabt, diese Bibliothek bestehe hauptsächlich oder sogar ausschließlich aus Büchern – gelesen oder ungelesen –, die von Gästen zurückgelassen worden waren. Auch er selbst, erinnerte er sich, hatte Bücher, die er aus Wien mitgenommen hatte und nicht mehr zu lesen beabsichtigte, hinterlassen. Sogar Doubletten eigener Werke hatte er dort deponiert. Vor ein paar Tagen hatte er ein kleines englischsprachiges Buch entdeckt, von dem er sicher war, daß es vor vielen Jahren ihm gehört hatte:
The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde and Other Stories
. Hatte er es damals versehentlich liegengelassen oder es der Bibliothek spenden wollen? Er sah auch die Elegien von Saar, das hübsche kleine Taschenbuch mit dem roten Einband. Es hatte keinen Namenseintrag. Nein, den Stevenson hatte er sicherlich nicht mit Absicht zurückgelassen.
    Er nahm das Bändchen an sich, verspürte Lust, die Erzählung wieder zu lesen. Jetzt fiel ihm ein, daß er seinerzeit in der Fusch vom Ableben Robert Louis Stevensons aus der Zeitung erfahren hatte; der Vater hatte sie ihm im Lesesaal herübergereicht. Merkwürdig, daß die großen Autoren immer in den Sommermonaten zu sterben schienen. Ein heftiger Schreck duchfuhr ihn: Hatte er die Nachricht, die er kürzlich erhalten hatte, Walter Benjamin sei an Krebs erkrankt, so verdrängt, daß er in den letzten Tagen nicht mehr daran dachte? Und auch nicht an Benjamins wunderbaren Aufsatz über Goethes
Wahlverwandtschaften
, den er so bald wie möglich in seiner Zeitschrift
Beiträge
veröffentlichen wollte? Wie hatte er sich gefreut auf eine Begegnung mit dem jungen Autor, den ihm Florens Christian Rang empfohlen … Wie unüberlegt: Die Nachricht von der schweren Erkrankung betraf nicht Benjamin, sondern Rang, war freilich deshalb nicht weniger erschütternd gewesen.

WIE DER Weixelbach von den Höhen herunterbrauste, schäumte, in sich überlagernden, wallenden Schüben! Wie oft war er schon hier auf der Brücke gestanden, an diesem manchmal unheimlichen Ort, rechterhand beschattet von dem weitläufigen hohen Mauerwerk, der Rückseite des
Grandhotels
, links von der steilen Böschung, an der hinauf – kaum zu glauben, daß sie hier wurzeln konnten –, Fichten dicht aneinandergedrängt in die Höhe wuchsen. Unter der Brücke, auf der er stand, toste der Wildbach den Berg hinunter, floß im Tal drunten in die Fuscher Ache, die bei Bruck in die Salzach mündet, diese in den Inn, der Inn in die Donau, und die Donau schließlich ins Schwarze Meer.
    So bin ich, fiel ihm ein, mit Carl auf einer etwas größeren Brücke gestanden, in Lenzerheide; der breite Bach dort war jedoch unendlich friedlich dahergekommen, spiegelglatt die Oberfläche, beinah schien er bewegungslos, und sie hatten sich dabei wieder über das Werk Oswald Spenglers unterhalten, und er hatte gesagt, daß er die Thesen Spenglers mitten im Krieg, als er den
Untergang des Abendlandes
zum ersten Mal gelesen hatte, nicht teilen, seinen Rigorismus und Fatalismus nicht hatte akzeptieren können. Einzelnes jedoch, hatte er hinzugefügt, überzeuge ihn, manches habe er übernommen in seine Notizen für den
Timon
. Jetzt, sieben, acht Jahre später, scheine ihm manchmal, wenn er sich umsehe, wenn er die Zeitungen lese, Spengler könnte doch recht haben, unsere Epoche sei eine der Spätzeit, eine seelenlose, kunstlose Zeit, in der das Geld herrsche und alles vom Geld entschieden werde. Manchmal, hatte er zu Carl gesagt, habe er sich überlegt, ob er den
Timon
nicht längst aufgegeben hätte, wenn er das Werk Spenglers nicht gelesen hätte. »Mir scheint«, hatte er hinzugefügt, »Spengler bestätigt meine Weltsicht, meine Beobachtungen; in manchem stimmen wir überein, das beflügelt mich.«

» IHR BLUTDRUCK ist eindeutig zu hoch«, sagte

Weitere Kostenlose Bücher