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Der Fliegenpalast

Der Fliegenpalast

Titel: Der Fliegenpalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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wußte nicht, ob und wann sie mit ihrer Familie diesen Sommer in Aussee sein würde. Mit dem Felix hatte er sich seit langem auseinandergelebt, dafür immer vertrauter mit seiner Mutter, mit Yella, die auch für ihn zu einer Art Mutter geworden war. Wie viele Jahre hatte er sein Zimmer gehabt in dem bäuerlichen Herrenhaus, in dem er auch schlief, wenn er manchmal bis tief in die Nacht hinein gearbeitet hatte. Das Mobiliar des Hauses, das die Räume zusätzlich verdunkelte, so daß man bei schlechtem Wetter sogar tagsüber eine Lampe am Schreibtisch anzünden mußte. In diesem Zimmer hatte er den
Florindo
vollendet. Wann hatte er dieses Haus zum ersten Mal betreten?
    Wie war es, als mein Vater so alt war wie ich jetzt? Er rechnete zurück, neunzehnhundertvier … Alles zog an ihm vorüber … Wie viele Jahre hatte er dann noch zu leben? Neunzehnhundertvierzehn …, und jetzt neunzehnhundertvierundzwanzig. Was war inzwischen alles geschehen!
    Er ließ die Hälfte des Schnitzels auf dem Teller. »Heute keine Nachspeise«, sagte er zum Kellner. Sobald dieser abgeräumt und das Tischtuch glatt gestrichen hatte, griff er nach der Post und legte sie sich zurecht. Zuerst las er noch einmal den kurzen Brief von seiner Frau, den sie beigelegt hatte. Sie machte ihn erneut darauf aufmerksam, daß er eventuell Besuch in der Fusch bekomme, ein Student aus dem George-Kreis, Bekannter von Rudolf Borchardt, der vermitteln wolle in dem Konflikt. Sie jedenfalls habe niemandem mitgeteilt, wo er sich derzeit aufhalte. Bekannter von Borchardt? Er mochte sich nicht vorstellen, daß dies vom Rudolf ausging. Er hatte vor kurzem mit Carl über diese leidige Sache geredet. Und einmal, in der Früh, hatte er überlegt, in welcher Form er sich bei Borchardt entschuldigen könne, ohne sich zu entschuldigen. Im Grunde war er ja der einzige ernstzunehmende Autor und Kritiker, von dem er sich, was seine Arbeit betraf, verstanden fühlte. Aber es war ja von Anfang an so gewesen, daß Anziehung und Abstoßung sich die Waage gehalten hatten.
    Er überlegte, sich auch bei Carl zu entschuldigen wegen seiner überstürzten Abreise aus Lenzerheide. Es fiel ihm ein, dass er am ersten Abend schon abreisen hatte wollen, weil der junge Direktor des
Parkhotels
ihm unheimlich gewesen war. Dabei hatte das Haus ihm bei der Ankunft so gut gefallen, daß er sich vornahm, im nächsten Jahr wieder zu kommen.
    Werde ich langsam verrückt? dachte er. Was macht die Arbeit an den Theaterstücken aus mir? Den wahren Grund für den Abbruch meines Aufenthalts habe ich ja nicht einmal dem Carl sagen können! Der Tag, als er sich nach dem Frühstück bei Carl für seine schlechte Laune auf der Fahrt nach Davos entschuldigte. In Davos hatten ihn während eines Rundgangs die vielen Bestattungs-Unternehmen, die vielen Sarggeschäfte erschreckt. Vor dem Frühstück, als er auf Carl gewartet hatte, hatte er eine Berner Zeitung in die Hand genommen, darin geblättert, bis er auf einer Seite hinten auf drei kurze Prosadichtungen von Robert Walser gestoßen war. Und plötzlich war ihm gewesen, als stürze alles ein. Bloß weg hier, hatte er immer wieder gedacht, ich halte es hier nicht mehr aus! Besonders ein Satz war ihm bis zum heutigen Tag unvergeßlich:
Wann ging die feine Stäubung des Schmetterlings in mir verloren
? Kurz danach war der Carl zum Frühstück erschienen, entschuldigte sich für die Verspätung, fragte ihn, wie er sich heute morgen fühle, und gleich darauf war H. ein Löffel aus der Hand gefallen.
    Der Gedanke in dem Moment über dem Zeitungsblatt: Aus! Schluß! Es hat keinen Sinn! Das Stück, den
Timon
, sein lassen und einfach Ferien machen, so gut es geht, hier im
Parkhotel
auf der Terrasse sitzen, Kaffee trinken, Tee trinken, Zeitungen, ein Buch lesen, spazierengehen, ein paar Briefe schreiben, langes Mittagsschläfchen; nachmittags bei der ärgsten Hitze auf dem Zimmer bleiben oder auf einer Bank im Wald etwas lesen …
    Das Gespräch mit Carl hatte ihn dann etwas beruhigt, und er sagte sofort mit Freuden zu, als dieser vorschlug, bald einmal nach Soglio ins Bergell zu fahren, gleich zeitig in der Früh.

BEIM RONDELL mußte er zur Seite treten und einem kleinen, schaukelnden, von einer jungen Dame gelenkten Automobil ausweichen.
    Wann war das? überlegte er. Als er im Winter in dem Palais in der Berliner Wilhelmstraße unerwartet auf Borchardt getroffen war, der dort während eines Fronturlaubs für Walther Rathenau einen Vortrag hielt.

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