Der Fliegenpalast
gefragt, als sie aus Berlin daheim angerufen hatte. Seit einiger Zeit brauchte er sich um Christiane nicht mehr zu sorgen, Gefühl und Verstand hatten sich bei ihr sehr schön entwickelt.
Er griff nach dem aufgeschlagenen Erzählband von James, einen Satz hatte er angestrichen: Daß das Reisen eine
moderne Demütigung
sei,
immer die laut schwätzenden Leute, ihr rüpelhaftes, rücksichtsloses Benehmen, ihr herdenhaftes Auftreten
…
Die gute Alma Mahler. Immer wieder einmal erinnerte er sich an ihre Begegnung vor vielen Jahren – Gustav Mahler hatte damals noch gelebt – im Foyer der Wiener Hofoper; sie hatte ihm etwas gesagt, ein Ballettszenario von ihm betreffend, welches von Zemlinsky immer noch nicht realisiert worden war. Sie hatte ja selber Ambitionen kompositorischer Art, hatte er gedacht, naja … Aber wie sie da beinah herausfordernd vor ihm gestanden war, ihm gewissermaßen ihre voluminösen Brüste entgegengestreckt hatte, ein erotisches Wesen, wie er selten einem begegnet war. In den letzten Jahren hatten sie sich aus den Augen verloren.
Das Kreuz tat ihm weh, er drückte seinen Rükken gegen die Stuhllehne. Keine Zeile geschrieben, nur einige Notizen, die vielversprechend waren. Auf dem Bett lagen ausgebreitet Manuskriptblätter vom
Turm
. Den fünften Akt, der sich so lange gewehrt hatte, wenigstens hatte er in Lenzerheide vollenden können. In Aussee würde er ihn der Gerty vorlesen.
SEIT DEM Krieg, fiel ihm ein, lag in den Wiener Kaffeehäusern kein
Prager Tagblatt
, keine
Czernowitzer Morgenzeitung
mehr auf. Im Restaurant flackerten die Tischkerzen in Jugendstil-Kandelabern. Ihr unruhiges Licht fiel auf die Gesichter des Ehepaars am Nebentisch, das er schwer aushalten konnte. Der Mann mit einer fürchterlichen Imitation eines Kaiser-Franz-Joseph-Barts, die Frau mit einer Art Goldhauben-Kopfbedeckung und einer riesenschlangenartigen Boa aus lauter kleinen weißen Federn.
»Heute abend leider wieder einmal kein elektrisches Licht«, hatte ihm der Ober beim Eintritt in den Saal zugeflüstert.
H. überlegte, ob er ihm sagen sollte, daß es hier ziehe, er möge nachsehen, ob die Tür zur Terrasse geschlossen sei. Auf dem Veloursüberzug des zweiten Stuhls am Tisch lag der Teil der Post, den er in seinem Zimmer nicht hatte öffnen wollen, den er hernach im Rauchzimmer durchsehen wollte, beim schwarzen Kaffee.
Den Brief der Ria Schmujlow-Claasen aus dem Bayerischen Wald hatte er überflogen. Die alte Freundin fühlte sich krank. Ihre Wohnung in München lösten sie jetzt endgültig auf, sie würden nach Rom übersiedeln. In Palermo war er Ria zuletzt begegnet, in diesem Frühjahr. Wie sehr berührte ihn ihr Schicksal: Weil ihr Mann Ausländer und Sozialist war, war eine Heirat in Deutschland seinerzeit nicht genehmigt worden, sie hatte in London stattfinden müssen. Zu Beginn des Krieges war Wladimir dann aus Deutschland ausgewiesen worden … Er fühlte sich gegenwärtig nicht imstande, auf ihren Brief gebührend zu antworten, steckte ihn ins Kuvert zurück. Von der Ottonie aus Bayern seit vielen Wochen kein Sterbenswort.
Für die nächsten zwei Tage, hatte der Portier ihm mitgeteilt, bleibe der Barometerstand niedrig; dann allerdings sei endlich hochsommerliches Wetter im Pinzgau zu erwarten, auf längere Zeit. Jetzt nützt es mir nichts mehr, dachte er, in drei, vier Tagen spätestens reise ich ab. Er schob den leeren Suppenteller von sich. In der letzten Nacht, als er lange wach gelegen war, hatte er überlegt, durch den Portier einen Lohnkutscher aus Bruck oder Zell am See herauf zu bestellen, und dann nach einem frühen Frühstück einfach abzureisen. Er hatte von einem Lawinenabgang in Fusch geträumt, von Schneemassen, die sich heranwälzten und alles verschütteten. Ich, hatte er gedacht, ich habe ja nie eine Lawinenkatastrophe erlebt, aber er hatte am Abend in dem alten Reiseführer aus der Bibliothek geblättert und über die schrecklichen Unglücke im vorigen Jahrhundert gelesen. Wie oft hatten die Hotels wieder neu errichtet werden müssen! Und wie soll ich mich durch diese zwei weiteren Schlechtwettertage bringen? Bei meiner derzeitig immer noch versagenden Phantasie, ja, bei meiner völligen Unlust, auch nur einen Brief zu schreiben.
Das Ramgut der Oppenheimer in Altaussee fiel ihm ein, mit dem Schreibzimmer, der großen Bibliothek – wie lange war das her, daß er dort bis weit in den Oktober hinein gearbeitet hatte? Die gute Yella … Aus Lenzerheide hatte er ihr geschrieben; er
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