Der Flirt
klingelte Sams Handy.
»Ja? Ja, das stimmt. Ein Tropfen? Was für ein Tropfen? Oh. Ein Schwall, was? Ja, gut« - er schaute auf die Armbanduhr -, »ich könnte jetzt gleich vorbeikommen, aber vielleicht kann ich das Ganze heute nicht reparieren.« Er sammelte sein Zeug zusammen. »Wie lautet die Adresse?«
Müllmänner, die außer Dienst waren, drängten zur Tür herein. Sam schob sich an ihnen vorbei und winkte Rose im Hinausgehen zu.
Rose erwiderte seinen Gruß mit einem Nicken.
In wenigen kurzen Tagen würde ihr Leben in der Tat sehr interessant werden. Doch bis dahin waren Gäste zu bedienen.
Chester Square Nummer 45
Olivia Elizabeth Annabelle Bourgalt du Coudray saß in dem blaugoldenen Frühstückszimmer am Chester Square Nummer 45 und drehte den riesigen Diamant-Memoire-Ring an ihrem Finger, während sie auf den Wutausbruch ihres Mannes wartete.
Sie hatte den Fehler begangen, in der Nacht aufzustehen, und ihren Mann damit geweckt. Anschließend hatte er sich die ganze Nacht so heftig wie nur möglich von einer Seite auf die andere geworfen, die Decke an sich gerissen, um sie gleich wieder wegzustrampeln, und am Kissen gezerrt und frustriert geseufzt. Und jetzt saß Olivia mit flatternden Nerven da, hielt ihre Kaffeetasse. Sobald er herunterkam, würde er ihr einen Vortrag halten und sie beschuldigen, ihn wach gehalten zu haben.
Ihr Mann Arnaud steigerte sich gern in Wut hinein. Neben kubanischen Zigarren und in der Öffentlichkeit wiedererkannt zu werden war dies eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Es ging doch nichts über eine schöne Schimpfkanonade, um den Tag zu beginnen, da leuchteten seine Augen auf, und seine Haut glühte. Es spielte keine Rolle, dass er die Hälfte aller Tennisballfabriken der Welt besaß und dass sein Familienvermögen derart groß war, dass er in Frankreich als politische Figur galt (zu allem wurde er nach seiner Ansicht gefragt, von der Zukunft der Europäischen Union bis hin zur Käseproduktion). Selbst Milliardäre ließen
sich von einer an Schlaflosigkeit leidenden Frau den Frieden rauben.
Als eine von sechs Töchtern der berühmten Bostoner Familie Van der Lyden hatte Olivia ihre Jugend zwischen New York, den Hamptons und der französischen Riviera verbracht und nur so lange in Boston verweilt, um einen Abschluss in Kunstgeschichte zu erwerben. Sie war privilegiert gewesen, ihre Geschlechtsgenossinnen eiferten ihr nach, sie wurde regelmäßig für Vogue und Harper’s Bazaar fotografiert. Als Arnaud begann, energisch um sie zu werben, hatte die amerikanische Presse dies als Vereinigung zwischen zwei glänzenden Sternen am internationalen gesellschaftlichen Firmament begrüßt. Doch hier in England war sie praktisch ein Nichts. Und in Paris bei Arnauds Familie fühlte sie sich eindeutig fehl am Platze. Es war nicht gerade zuträglich gewesen, dass Arnauds Mutter, die furchterregende Comtesse Honorée Bourgalt du Coudray, ihr auf ihrem Hochzeitsfest in der Paris Opéra auf Schritt und Tritt gefolgt war, ihr Französisch korrigiert hatte und sich für den Zustand der Haare ihrer neuen Schwiegertochter entschuldigt hatte.
Olivia schaute hoch und richtete den Blick auf den ovalen Spiegel, der auf der anderen Seite des Zimmers hing. Sie besaß den gesunden amerikanischen Glamour, der Ralph Lauren und Calvin Klein inspirierte, sportlich gute Laune gepaart mit klassischen Zügen. Ihr blondes Haar war dick und glatt, ihre blauen Augen groß und ihre Wangenknochen ausgeprägt. Doch sie hatte mit angehört, wie ihre Schwiegermutter eines Abends Arnaud laut erklärt hatte: »Sie ist unauffällig und reizlos, sie besitzt keine Klasse.« Ein vernichtendes Urteil, das Olivia seither quälte. »Warum hast du Frischkäse gewählt, wo du dir genauso gut hättest Camembert leisten können?«
Selbst jetzt marterte das Schreckgespenst ihrer Schwiegermutter
sie wie unaufhörliche Kritik aus der ersten Reihe in ihrem Kopf.
Reizlos. Unauffällig. Die Comtesse hatte nur ausgesprochen, was sie selbst die ganze Zeit schon geargwöhnt hatte: Sie war eine Schwindlerin, eine blasse Imitation eines Menschen ohne echte Talente oder originelle Gedanken, ohne greifbares Ziel im Leben. Viele Jahre lang hatten ihre gute Erziehung und ihre Schönheit ausgereicht. Doch jetzt, wo sie vierzig war, schwand auch die dahin.
Olivia war Arnauds zweite Frau. Zu dem Zeitpunkt, da sie ihn geheiratet hatte, hatte er bereits zwei erwachsene Kinder, besaß ein riesiges gesellschaftliches Netzwerk, das sich über
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