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Der Flirt

Titel: Der Flirt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Tessaro
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die Journalisten.«
    »Aber wie?«
    »Ignorieren Sie sie.«
    Ein ausgezeichneter Rat.
    Indem sie absolut nichts tat, zeigte Rose, alias Red Moriarty, dass sie das Zeug dazu hatte, ein Phänomen zu sein.

Warten
    Leticia blickte wütend auf die Küchenuhr.
    Dann ging sie zum Fenster und schaute noch einmal nach. Draußen verschleierte ein dünner Nieselregen den Abendhimmel, der die Passanten zwang, die Köpfe zu senken und ihre Schritte zu beschleunigen. In einer Ecke ballten sich bedrohlich dunkle Wolken. Sie starrte hinaus auf die Straße und versuchte die Identität der Leute, die auf sie zugeeilt kamen, auszumachen, konnte jedoch kaum mehr erkennen als ihre Umrisse.
    Nichts.
    Er kam nicht. Sam hatte gesagt, er würde kommen, aber er kam nicht.
    Sie ging auf und ab. Ihr Zorn wuchs. Was machte sie hier eigentlich, saß herum wie eine Idiotin und wartete auf einen Mann, den sie kaum kannte?
    Wie jämmerlich!
    Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal so trübselig durch die Wohnung geschlichen war.
    Nicht seit …
    Sie hielt inne.
    Regen schlug dumpf ans Fenster.
    Leticia ließ sich in einen blauen Sessel plumpsen. Der Raum war plötzlich kalt, dunkel; die Ausstattung sah langweilig, im Halbdunkel sogar geschmacklos aus.
    Nach einer Weile stand sie auf und zog ihren Mantel an.
Der Wind war stärker geworden. Als sie die Haustür öffnete, war es, als schlüge ihr eine Hand kräftig ins Gesicht, schmerzlich, ernüchternd. Gestalten hasteten an ihr vorbei, suchten rasch irgendwo Schutz, als ein Blitz über den Himmel zuckte. Ein Stück die Straße hinunter brachen die himmlischen Mächte hervor. Sie achtete nicht darauf. Mit gesenktem Kopf ging sie in Richtung St. George’s Square. Riesige Regentropfen prasselten auf den Gehweg. Donner grollte. Die Rinnsteine füllten sich und liefen in wenigen Minuten über.
    Mit am Kopf klebendem nassem Haar stapfte Leticia weiter, über den Platz und zu den verlassenen Ufern des Embankment. Dort setzte sie sich auf eine der unbequemen viktorianischen Bänke, die die Rabatten säumten, und starrte auf das schiefergraue Wasser der Themse.
    Zum ersten Mal war sie ihm in der Universität begegnet. Sie war zwanzig Jahre alt gewesen, und er war einundzwanzig und Student der Mathematik. Er war blass, groß und sehr schlank und hatte dichtes, braunes Haar, das sich der Schwerkraft widersetzte und ihm in allen Richtungen vom Kopf abstand wie eine Kinderzeichnung der Sonne. Es sah aus, als hätte er sich im Dunkeln angezogen und die Sachen aus dem Kleiderschrank seines Vaters genommen statt aus seinem eigenen: Hemden, die ihm von den Schultern hingen, und Hosen, die sich beulten und ihm − trotz Gürtel − über die Hüften zu rutschen drohten. Doch er hatte ein Gesicht wie ein Engel auf einer viktorianischen Postkarte, mit feinen, zarten Zügen, großen grauen Augen und hoher Stirn. Seine Lippen waren zu einem dauerhaften angedeuteten Lächeln gebogen wie bei einem Heiligen in Ekstase.
    Sie hatte noch nie jemanden gesehen, der so schön war, und noch nie jemanden gekannt, der so klug war.
    Alle Zeichen waren da, gleich von Anfang an, wenn sie
nur darauf geachtet hätte. Die Art, wie er sprach, als wäre es ein Wettrennen, den einen Gedanken auszusprechen, bevor ein anderer die Führung übernahm; die Tatsache, dass er ständig vergaß, zu essen und zu schlafen und die Miete zu zahlen.
    Die Art, wie er ihr bei ihrer dritten Verabredung seine Liebe erklärte.
    Niemand hatte sie je geliebt.
    Sieben Jahre lang waren sie unzertrennlich gewesen.
    Leticia nahm eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Manteltasche, beugte sich vor, hielt die Hand schützend um die Flamme des Feuerzeugs, zündete sich eine an und inhalierte tief.
    Sie hätte alles getan, um ihn zu beschützen. Doch sie wäre nie im Leben auf die Idee gekommen, dass er vor sich selbst beschützt werden musste.
    Das Gewitter war vorbei. Sie zog den Mantel enger um sich, stand auf, beugte sich über das Geländer und schaute in das schmutzig trübe, schwarze Wasser der Themse.
    Monatelang hatte sie aus dem Fenster gestarrt, Straßen abgesucht, auf das Geräusch seines Autos oder auf seine Schritte gelauscht.
    Monatelang hatte sie gewartet.
     
    Als sie näher kam, den Platz in der wachsenden Dunkelheit überquerte, erkannte sie Sam. Er stand unter dem Säulenvorbau ihres Hauses, lehnte, eine blaue Plastiktasche in der Hand, am Türrahmen. Er war gewaschen und frisch rasiert und trug eine schwarze Lederjacke und

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