Der Fluch der Abendröte. Roman
was für blaue Ringe sie unter ihren Augen hatte. »Hast du wieder Kopfschmerzen?«
Sie zuckte nur mit den Schultern – eine Verneinung sah anders aus. Dass sie so früh wach war, nichts essen wollte und Kopfschmerzen hatte – das war einmal mehr ein Zeichen, ein untrügliches Zeichen für …
Aber nein! Nicht jetzt! Jetzt musste ich erst mal mit ihr zu Nele nach Salzburg kommen, dann würde ich in Ruhe über alles nachdenken!
»Ist Nathan wieder da?«, fragte sie, aber es klang nicht wirklich interessiert.
Ich schüttelte den Kopf, ging nicht weiter auf ihre Frage ein, sondern erklärte mit knappen Worten, dass ich gerade mit Nele telefoniert hätte und dass diese uns ihre neue Wohnung zeigen wolle. Wir würden sie besuchen – und sofort aufbrechen. Je länger ich sprach, desto lächerlicher klangen die Worte in meinen eigenen Ohren. Nie und nimmer würden wir im Normalfall ausgerechnet an einem Schultag nach Salzburg fahren. Und noch absurder musste Aurora meine Aufforderung erscheinen: »Pack deine Sachen, wir bleiben für ein paar Tage.«
Doch obwohl ich insgeheim mit Widerspruch rechnete – nicht zuletzt, weil sie seit Wochen keinen Schritt mehr ohne Mia machen wollte –, schob sie ihre Kakaotasse von sich, stand wortlos auf und ging in ihr Zimmer. Nicht nur, dass sie nicht protestierte – sie stellte auch keine einzige Frage. Eine Weile starrte ich auf die Kakaotasse, nahm dann selbst ein paar Schlucke, weil ich keine Zeit verschwenden wollte, um mir einen Kaffee zu machen. Der Kakao war eiskalt, sie musste schon mindestens seit einer Stunde hier gesessen haben.
Hastig stellte ich die Tasse ab und verschüttete dabei ein paar Tropfen. Ich nahm mir nicht die Zeit, sie wegzuwischen, vielmehr konnte es mir nun gar nicht schnell genug gehen, von hier wegzukommen. Binnen zehn Minuten hatte ich das Nötigste gepackt – so hektisch, als wäre ich auf der Flucht vor irgendjemandem und als würde dieser mich belauern, während ich im Bad und im Schlafzimmer ein paar Toilettensachen und diverse Kleidungsstücke unsystematisch in meine Tasche stopfte. Ich nahm mir nicht einmal die Zeit, mein Gesicht zu waschen, sondern schlüpfte eilig in meine Schuhe. Als ich mich umdrehte, stand Aurora mit ihrer Tasche hinter mir im Flur. Völlig lautlos hatte sie ihr Zimmer verlassen. Vor allem aber: Sie hatte noch schneller gepackt als ich – sie, die ansonsten oft so langsam, träge, unwillig war, wenn es um solche Aufgaben ging.
Während ich sie noch verwirrt anstarrte, ging sie an mir vorbei zur Tür. »Du hast es doch eilig, oder?«, fragte sie ausdruckslos.
Ich versuchte den Blick ihrer blauen Augen zu ergründen. Sie wirkten wieder dunkler und strahlender als sonst, aber das konnte auch Einbildung sein.
Der Regen hatte endlich nachgelassen, in tiefen Pfützen spiegelte sich der graue Himmel; die Kieselsteine knirschten, als wir zum Auto gingen. Es stand im Freien, denn ich hatte es gestern Abend nicht mehr in die Garage gefahren. Ich schloss auf, warf unsere Taschen in den Kofferraum und stieg hastig ein. Eisern vermied ich es, einen Blick hoch zu Caspars Anwesen zu werfen. Aurora nahm Platz und schnallte sich wortlos an. Meine Hand zitterte leicht, als ich den Autoschlüssel ins Schloss stecken wollte. Dreimal verfehlte ich es. Endlich gelang es mir, aber die Erleichterung darüber währte nicht lange. Ich drehte den Schlüssel, woraufhin der Motor ein röchelndes Geräusch von sich gab und sofort wieder erstarb. Ich versuchte es noch einmal – wieder sprang der Motor nicht an. Beim dritten Versuch klang das Röcheln des Autos nicht nur kraftlos, sondern nahezu verzweifelt.
»Verdammt!«, schimpfte ich, als es sich auch beim vierten Mal nicht starten ließ.
»Das Auto ist kaputt«, murmelte Aurora knapp – und ich konnte nicht widersprechen.
In meinem Kopf formte sich ein noch weitaus alarmierenderer Gedanke: Vielleicht ist es nicht einfach nur kaputt – vielleicht ist es von irgendjemandem kaputtgemacht worden …
Ein unfreundlicher Mann antwortete, als ich beim Pannendienst anrief. Auf die Panik in meiner Stimme reagierte er mit zunehmender Verärgerung, als wäre der Schaden an meinem Auto eine persönliche Beleidigung. Ja, erklärte er, er könne jemanden vorbeischicken, der sich das Auto ansehe, aber bis zum späteren Nachmittag müsse ich warten, vielleicht würde es sogar Abend werden … wie, jetzt gleich? Wo denke ich nur hin? Das sei unmöglich … so abgelegen wie ich wohne …
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