Der Fluch der Halblinge
nur versuchen, sich einigermaßen die Richtung zu merken. Da sich der Palasthügel mitten in der Stadt befand, würde sie sich nicht so schnell von ihr entfernen. Dennoch bestand die Gefahr, in einer Sackgasse zu landen. Sie markierte die Abzweigung und schritt tapfer weiter, obwohl ihr bereits die Füße wehtaten. So groß und doch so nutzlos, weil ungeübt , dachte sie ironisch bei sich. Aber die Fackel hielt, also konnte sie noch nicht so lange unterwegs sein.
Da Cady keinerlei Zeitgefühl hatte und nicht einmal abschätzen konnte, wie lange eine ihrer Fackeln brannte, ging sie so lange, bis sie fast im Gehen einschlief. Inzwischen hatte sie eine zweite Abzweigung erreicht, und um nicht im Kreis zu gehen, nahm sie diesmal den rechten Gang. So lange konnte es doch gar nicht dauern, bis sie die Kanalisation erreichte, oder? Der Palast war daran angeschlossen, und so groß war der Hügel nun auch wieder nicht. Normalerweise müsste sie bald darauf stoßen, oder zumindest eine Veränderung des Wasserrauschens wahrnehmen. Vielleicht hatte sie Pech und sie erreichte eine Wand, hinter der die unterirdischen künstlichen Wasserwege lagen. Es war alles möglich. Aber dann musste sie eben unverrichteter Dinge wieder umkehren. Zumindest hätte sie es versucht.
Also schön, rechts entlang und darauf gehofft, dass ich das richtige Gespür habe.
Als ihr immer häufiger die Augen zufielen, sah Cady ein, dass sie seit vielen Stunden unterwegs war und Ruhe benötigte. Sie stillte ihren Durst, indem sie die Tropfen vom Gestein leckte. Das Wasser hatte einen leicht metallischen Geschmack, war kalt und rein. Die Mahlzeit dazu musste sie sich denken. Der Hunger bohrte in ihren Eingeweiden. Wie lange konnte sie wohl ohne Nahrung durchhalten? Schon seit der Einkerkerung wurden sie kurz gehalten, und Cady hatte bereits zweimal den Rock ein Stückchen enger fassen und den Gürtel fest verknoten müssen. Viel blieb da nicht mehr.
»Hör endlich auf, dir selbst den Schneid abzukaufen«, ermahnte sie sich. »Damit ist niemandem gedient. Und inzwischen zählen alle auf dich, weil du die Einzige bist, die draußen ist. Findest du einen Ausweg, können alle fliehen …«
Im Augenblick allerdings konnte sie nicht weiter. Weil ein Platz so gut war wie der andere, kauerte sie sich hin, fand eine Lücke in den Felsen, in die sie die Fackel stecken konnte, und rückte nah an die beruhigende Flamme heran. Sie zog die Beine an, wickelte den Rock fest darum, schlang die Arme um die Beine und legte den Kopf an die Knie. Noch bevor Cady darüber nachdenken konnte, wie sie in dieser Stellung überhaupt schlafen sollte, war sie auch schon weg.
Plötzlich schreckte Cady hoch und verharrte mit wild schlagendem Herzen. Sie brauchte eine Weile, um zu sich zu kommen und zu begreifen, dass sie nicht blind war, und wo sie sich aufhielt.
Ihr Schlaf hatte einer Ohnmacht geglichen, übergangslos war sie in bewusstlose Schwärze gefallen und ebenso abrupt daraus erwacht.
Es war kalt. Es war feucht.
Und es war finster.
Zitternd tastete Cady nach der Fackel. Sie war kalt wie die Felsen. Cady hatte so lange geschlafen, bis die Fackel vollends heruntergebrannt und erkaltet war. Obwohl sie noch unbenutzte Fackeln mit sich führte, konnten sie ihr nicht mehr helfen, denn sie hatte nichts, um sie zu entzünden.
Cady weinte.
*
»Was hast du mir zu berichten, meiner treuer Pirmin?« Die liebliche Stimme der Àrdbéana war nur noch ein Hauch. Sie lag wie jeden Tag in dem großen Bett ihres Gemachs, die Seidenvorhänge zugezogen. Der Besucher konnte ihre dahinschwindende Gestalt nur undeutlich erkennen.
»Hochedle.« Der Oberste Haushofmeister kniete an ihrem Bett nieder und griff behutsam nach ihrer schmalen, bleichen Hand, die sie durch den Vorhang nach ihm ausstreckte. »Ich verhöre die Bogins, doch ich gewinne keinerlei Erkenntnisse. Ich bin inzwischen sicher, dass keiner von ihnen in diesen schrecklichen Mordfall verstrickt ist.«
»Daran habe ich nie gezweifelt«, antwortete die Hohe Frau. »Umso wichtiger ist es, dass sie weiterhin abgeschottet bleiben. Nur dort unten im Verlies sind sie sicher, denn das Böse findet allerlei Mittel und Wege. Aber nicht dorthin …«
»Es kommt mir trotzdem so vor, als ob ich nicht der Einzige bin, der Verhöre durchführt«, fuhr Pirmin fort. »Und ich finde ab und zu völlig verstörte Bogins vor. Mylady, ich glaube nicht, dass der Schutz dort unten ausreichend ist. Abgesehen davon, dass diese Kerkerhaft an ihren
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