Der Fluch der Halblinge
schwach sein werde, mich zu bewegen. Ach! Was denke ich da schon wieder? Tage? Hier unten gibt es keine Tage, und ich kann die Zeit nicht messen.
Erneut schluckte sie die Tränen hinunter. Was half es, verzweifelt zu sein? Wem nutzte es? Sie musste weitergehen, solange es noch ging, so weit sie es schaffte. Ohne Zagen und Zaudern, ohne Heulen und Klagen. Das Leben ihrer Freunde war keineswegs heller; sie mussten Stunde um Stunde im Dämmerlicht ausharren ohne zu wissen, was mit ihnen geschehen würde. Sie mussten in beständiger Angst leben, ohne dass sie ausweichen konnten. Und wo Fionn war, vermochte sie nicht einmal zu erahnen. Cady hatte zum ersten Mal in ihrem Leben eine freie Entscheidung gefällt, und das würde sie niemals bereuen. Sie hatte nicht angenommen, dass es ein Spaziergang würde. Aber Fionn hatte es ihr vorgemacht, und sie würde ihm nicht nachstehen. Sein Schicksal, wo auch immer er jetzt sein mochte, würde ihn verändern. Also musste auch sie sich verändern, sonst war ihre gemeinsame Zukunft gescheitert.
Nun weinte Cady doch.
Aber sie ging weiter.
Nach einigem Tasten entlang der Wand, hatte Cady das Gefühl, dass sie sich immer weiter nach rückwärts entfernte, dass die Höhle sich in die Richtung ausdehnte, aus der sie gekommen war. Auch hatte sie den Eindruck, dass die Richtung der frischen Brise nicht mehr stimmte. Das war also nichts, falscher Weg.
Sie setzte inzwischen nach jeweils zehn Schritten Markierungen, bemüht, immer die gleiche Höhe zu treffen, sodass ihre streifende Hand sie wiederfinden würde, wenn sie begann, im Kreis zu laufen. Bisher war sie nicht auf ihre eigenen Zeichen gestoßen.
Und dann verharrte sie und hielt den Atem an. Was war das? Ein fernes, sehr fernes Geräusch. Ein hoher, scharfer Laut. Und dann … noch einer, der nach … einem Bellen klang? Und … war das etwa … ein Horn?
Cadys Hand verkrampfte sich vor der Brust. Einbildung? Hörte sie Geisterlaute vor lauter Verzweiflung darüber, nichts mehr sehen zu können? Sie lauschte angestrengt.
Ridirean , dachte sie. Es ist die Ritteruhr!
Sie schluchzte auf vor Glück und Erleichterung, sofort fühlte sie sich nicht mehr so einsam, auch wenn das lächerlich war. Denn was nützte ihr der Klang hier unten, tief im Hügel, wenn sie nie wieder hinausfand?
Dennoch: Sie war getröstet. Sie befand sich auf dem richtigen Weg ins Zentrum der Stadt. Dann konnte auch die Kanalisation nicht mehr weit sein. Woher genau war der Laut gekommen? Es war so schwer auszumachen, denn es konnte ja auch ein Echo sein. Doch sie war überzeugt, dass der Klang nicht aus der Richtung kam, die sie gerade einschlug. Also in jedem Fall wieder zurück!
Das Horn war verstummt, doch Cadys Inneres war noch immer davon erfüllt. Sie zählte die Schritte zurück und fand tatsächlich auf Anhieb den Gang wieder, durch den sie hereingekommen war. Das machte ihr Mut. Stockfinster, eine große Höhle, und sie hatte sich noch nicht verirrt. Nun verließ sie sich einfach auf ihre Sinne. Sie würde doch versuchen, die Höhle zu durchqueren. Irgendwann würde das Ritterhorn wieder erklingen, und dann war sie vielleicht schon näher und konnte die Richtung eher bestimmen. Und dem Klang folgen.
Cady ließ sich auf alle Viere nieder und bewegte sich langsam vorwärts. Sie versuchte, mit den Händen eine kleine Spur zu hinterlassen, falls sie doch zurück musste. Nach wie vor musste sie sich darauf verlassen können, dass sie sich geradeaus bewegte. Was auch immer das heißen mochte. Sie schob das lose Geröll, das hier überall herumlag, im Vorwärtskriechen zu kleinen Häufchen zusammen. So entstand eine Spur aus winzigen Hügelchen, der sie auch im Dunkel folgen konnte. Hoffentlich.
Cady hatte zehn Markierungen hinterlassen, als sie abrupt und schmerzhaft mit dem Kopf gegen Fels stieß. Sie fiel auf den Hintern und rieb sich die Stirn, spürte ein wenig Feuchtigkeit unter den Fingern. So sehr hatte sie sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt, dass sie das Ende der Höhle rechtzeitig erkannt hätte.
Ridirean schlug erneut, und Cadys Herz jubelte, als sie die Ritteruhr tatsächlich schon viel näher hörte. Sie war auf dem richtigen Weg! Behutsam tastete sie sich nach links an der Wand entlang und spürte gleich darauf einen weiteren Luftzug aus einem Gang. Dem würde sie jetzt folgen.
Ich habe mich frei entschieden. Ich gehe diesen Weg . Sie fühlte sich fast euphorisch. Es war eine gewaltige Veränderung, und ihr wurde bewusst, dass,
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